Bildgeschichten



Wenn man wie ich nicht mehr viele Abenteuer in unerkundeten, nur auf geheimen Karten verzeichneten Gebieten erlebt, gräbt und bohrt man tiefer in den Archiven oder liest gemütlich zu Kaffee und Kuchen (aber ohne Pfeife und Ohrensessel) die Berichte anderer Autoren aus der Jugend. Und mag das Verhältnis zwar immer zwiespältig gewesen sein - aber am Ende kehrte ich zu einer Reihe zurück, auch wenn mancher da den Kopf schütteln mag. Früher war das nämlich so: War man als Kind mit Tim & Struppi durch, blieb für an Comix Normalinteressierte nicht viel. (Es war die Zeit vor dem Internet und internationalem Bestellwesen.) Viele wichen von Hergés Ligne Claire aus auf die Schule um Franquin (Gaston, Spirou) oder griffen - ebenfalls aus dem Hause Carlsen - zu Edgar P. Jacobs' Blake und Mortimer. Der war einst Mitarbeiter von Hergé gewesen und hat schon deshalb seinen Platz in der bedeutenden frankobelgischen Comixschule sicher.

Die wilden Geschichten um den walisischen Geheimdienstbeamten Blake und seinem Freund, dem genialen Halb-Schotten und Professor für alles Mögliche Mortimer spielen in der Zeit zwischen den 40er- und 60er-Jahren und bedienen sich eifrig an allerlei Themen und Motiven aus Pulp und Abenteuerroman, Fantastik und Spionagethriller, Kriegsabenteuer und Sci-Fi-Welten. Wunderwaffen und Dinosaurier, antike Kulte und Konspirationen, die ein oder andere mühsam geduldete Femme fatale (Jacobs wirkt da eher pikiert), einen wiederkehrenden Erzschurken und alles getränkt in britischem Patriotismus und Weltüberlegenheitsattitüde. (Eine Ausnahme bildet der eher pessimistische Band Die teuflische Falle von 1962.)

Alles ein bisschen brav also oder auch bieder, dann aber immer wieder auch herrlich absurd in der atomiumhaften Fortschrittsgläubigkeit der 50er-Jahre (1946 erschien die Serie zum ersten Mal) mit den Träumen von Überschall und Radiowellen tiefster und allerhöchster Frequenzen, der Entdeckung antiker Ausgrabungsstätten und ihrer (militärischen) Geheimnisse, Kalter-Kriegs-Methoden um Gedankenkontrolle und Kampfbomber, die den Frieden sichern sollen. Schmuck gezeichnet, etwas kantiger als Hergé, aber auch über längere Strecken zäh erzählt. Berüchtigt ist Jacobs' Hang zu salvenartig verstreuten und überflüssigen Textblöcken in seinen Bildern. Ein fast selbstparodistischer Klassiker zeigt Leutnant Blake (oder welchen Rang er da gerade hat) wie er bei bei einer nächtlichen Zugfahrt aus dem Fenster schaut und dazu die Unterschrift "Blake schaut aus dem Fenster".

Nachdem ich eine kleine Reihe damals erhältlicher Titel angesammelt hatte, war mir das irgendwann zu langweilig. Ich verstieß, also verkaufte, die Bände - nur um dann Jahre später die Sammlung wieder anzufangen. Man darf nicht so leicht genervt sein! Jetzt ist also Band 26 der deutschen Übersetzung erschienen. Mittlerweile wird die Reihe nach Jacobs Tod 1987 von verschiedenen Autoren und Zeichnern (zeitweise von Ted "Ray Banana" Benoît) fortgeführt, die teilweise die Überfrachtung mit Textblöcken behutsam entschlackten (oder aber wie bei Jean Van Hamme auch steigerten), den altmodischen Charme der Geschichten dabei aber gut bewahrten. Der frisch erschienene Band Acht Stunden in Berlin etwa spielt 1963 in der geteilten Stadt und erzählt mit aus Hitchcocks Der zerrissene Vorhang bekannten Motiven eine wilde Geschichte über ein Komplott rund um den Besuch von US-Präsident J.F. Kennedy ("Ich bin ein Berliner"). Alles in flottem Tempo, mit doppelten Böden und Doppelgängern, Spionen und Gegenspionen, finsteren Sowjets und verschlagenen US-Amerikanern, verrückten Wissenschaftlern, tickenden Uhren und einem actionreichen Finale. Schön sind die gut recherchierten Details, etwa wenn in Ostberlin Plakate von Staudte-Filmen zu sehen sind.

Gehobener Schund, und das meine ich ganz freundlich, und Unterhaltung ähnlich etlicher Hollywood-Abenteuerkino-Franchises. Kritiker werden sagen, eher restaurativ, politisch staubbeladen und ohne postmoderne Meta-Spielereien für die Genre-Gewieften, aber als spannende, alternative Was-wäre-wenn-Historienmalerei sehr unterhaltsam. Mir taugt's.

(José-Louis Bocquet, Jean-Luc Fromental, Antoine Aubin. Die Abenteuer von Blake und Mortimer, Bd. 26: Acht Stunden in Berlin. Hamburg, Carlsen Verlag, 2023.)

Ex Libris | 17:04h, von kid37 | Kondolieren | Link

 
nnier - Sonntag, 30. Juli 2023, 16:19
Ah, Comics! Ich muss zugeben, dass mich viele der realistischeren, also nicht primär "komischen", frankobelgischen Alben als Kind überfordert haben. Nach einer Ladung Tim&Struppi hatte ich jedenfalls regelmäßig Kopfschmerzen.

Blake und Mortimer muss ich also noch entdecken - greife aber gleich mal zu den von mir sehr geschätzten Gin & Fizz von Will & Rosy, leider auch als Harry und Platte bekannt. Danke für die Anregung!

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kid37 - Sonntag, 30. Juli 2023, 16:27
Mit 37plus ist das schon eine histoire complètement différente, wie man in Frankobelgien sagt. Hergé hat ja immerhin noch die Dynamik der Seite beachtet und seine Cliffhanger unten rechts platziert. Selbst das ist hier nicht durchgehalten. Dafür fehlt der Reporter als Moralapostel, hier wird unbefangen gepafft und über Alkoholika philosophiert. Das gelbe M ist der gut abgeschlossene Klassiker der Reihe, falls Sie mal reinschauen wollen.

Ja, die deutschen Übersetzungen! Siggi und Babarras, Pit und Pikkolo.... ein Graus.

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kelly vie - Montag, 31. Juli 2023, 08:04
Ganz toll auch: Francois Schuitens ("Die geheimnsivollen Städte") Blake & Mortimer-Band "Der letzte Pharao" (2019), der in Brüssel, vor allem im Justizpalast, spielt, und für Brüssel- und Comics-Fans gleichermaßen attraktiv ist. Im realen Brüssel gibt es natürlich auch ein schönes Blake & Mortimer-Mural.

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kid37 - Mittwoch, 2. August 2023, 09:52
Danke für den Hinweis. Der Schuiten-Band wurde mir auf Mastodon auch empfohlen. Ich habe da immer gezögert, weil der Zeichenstil schon sehr anders ist, und mir der Bruch zu deutlich war. Vielleicht sollte ich mir einen Ruck geben. (Und vor allem die Originalschauplätze in Augenschein nehmen ;-))

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vulkantanz - Mittwoch, 2. August 2023, 09:25
Comics! Auch wenn ich diese Serie nie gelesen habe, ist es doch (meist) erfreulich, wenn Klassiker weitergeführt werden. Auch wenn man nicht immer weiter am Ball bleiben kann. Zu meiner Zeit gab es mit Yoko Tsuno schon eine weibliche Protagonistin mit fortschrittlichen Beruf (Elektronikerin!) und tollem Geschichten auf der Erde und im Weltraum. Und Franka. Die Serie sammle ich noch immer, zuletzt im Kleinverlag erschienen.

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kid37 - Mittwoch, 2. August 2023, 09:49
Ach ja, Yoko Tsuno. Nie gelesen, aber ich erinnere mich an die Reihe. Jetzt lese ich, das es dort auch eine Episode in Wuppertal mit der Schwebebahn gibt. (Allerdings anachronistisch. Straßenbahn und Waggontypen der Schwebebahn passen nicht zu einander, meine ich.) Sehr vorbildlich. Und ja, schön, wenn solche Serien nicht nur immer wieder neu aufgelegt, sondern wirklich weitergeführt werden.

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