Ein koloriertes Leben



In meinem Debütroman Die Tatzen eines sehr großen Tieres schrieb ich bekanntlich über die Bedeutung des Mysteriums im Alltag. Wie erstaunt war ich, meine eigenen Gedanken in The Secret History of Twin Peaks wiederzufinden, in dem ich heute ein wenig blätterte (dazu: ein verdammt guter Kaffee, leider keinen Kirschkuchen). Da heißt es nämlich: "A wise old man once told me that mystery is the most essential ingredient of life, for the following reason: mystery creates wonder, which leads to curiosity, which in turn provides the ground for our desire to understand who and what we truly are."

Ich las dies mit geheimen Erstaunen, während ich Musik aus meinen neuen Lautsprechern wie neu hörte. Erstmals in meinem akustisch weitgehend schlicht geführten Leben habe ich mir letzten Jahr sogenannte "Lautsprecherboxen" gekauft, also "was Vernünftiges" im für Enthusiasten immer noch unterem Segment. Aber: eine Offenbarung für die Ohren bereits jetzt, schälen sich doch nun plötzlich aus meinen Musikträgern Mysterienklänge heraus, die bislang noch ungehört waren. Auch so ein Wunder im Alltag. Ich könnte nun also im frisch gestärkten weißen und durch silberne Manschettenknöpfe beschlossenem Hemd dasitzen, ein Glas mit Hochprozentigem (gemeint ist natürlich Sauerkrautsaft oder ähnlich gesundes) in der Hand und dufte-dezentem Hifi-Sound lauschen.

Ich tat es für die Wirtschaft, denn das letzte Hemd hat keine Taschen. Die Woche über habe ich überlegt, was eigentlich auf meinem Grabstein stehen soll, denn über alles denkt man nach, nur nie über letzte Dinge. "Da wäre mehr drin gewesen" fand ich am Ende recht passend. Das klingt nach Bilanz, ohne zu pathetisch zu wirken. "Wohltäter", "Er liebte die Menschen" oder "Auch schon tot" hatte ich verworfen. Dazu müßte man mich ein bißchen kennen und vor allem einen Sinn für Humor haben. "Da wäre mehr drin gewesen" hingegen eckt nicht an und beklatscht nicht nur den Stifter, sondern ist auch Moral und Mahnung für die an meinem Grab Vorüberschreitenden. Ist das also auch erledigt.

In unseren nostalgischen Zeiten bin ich gerührt über das kolorierte Leben, wie das früher einmal war. Jacques Henri Lartigue war ja Autodidakt, überraschte aber mit einem reichhaltigen, sehr hübschen Werk von Alltags-, Motorrennen- und Modefotos, die meist in Schwarzweiß gehalten waren. Weniger bekannt sind seine Farbfotos, die von einem entspannten Leben berichten, wie es früher jeder hatte. Warum meine Blumen da den Kopf hängen lassen, weiß ich nicht. Aus Österreich erreichte mich der Rat, die mal über Nacht an der Decke aushängen zu lassen. So eine Art Blumen-Bondage vielleicht. Für die Gelenke ist das ja auch gut, was man deshalb weiß, weil man noch nie eine Fledermaus mit Rückenproblemen entdeckt hat.

Die Kollegin hat meine Schuhe gelobt.

Homestory | 19:43h, von kid37 | Kondolieren | Link

 
vert - Montag, 20. Februar 2017, 16:00
durch die anschaffung der famosen b&w cdm1 in den neunzigern verdoppelte sich meine musiksammlung - nur die erste hälfte wollte ich dann nie wieder hören... jetzt bange ich nur in regelmäßigen abständen, dass das hochtönerferrofluid sich verflüchtigt, aber nach über zwei jahrzehnten kann man nicht mal wirklich boseböse sein. und hübsch waren die! sind sie heute noch!
sie sehen, ich bin heute noch verliebt. wann kann man das schon sagen. auch ihnen alles gute für die neue beziehung.

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kid37 - Montag, 20. Februar 2017, 21:55
Mein Vater erzählte mir, daß es wohl Mikroben sind, die Schaumstoff und Sicken in Lautsprechern (und anderswo) vernichten. Es ist eine unwirtliche, feindliche Welt da draußen. Ich hatte zuvor tatsächlich einfach nur so JBL-Control-Boxen, wie sie in jeder zweiten Kneipe hängen. Ich höre ja viel über Kopfhörer, aber nun weiß ich, daß es auch gar nicht anders ging. Mir - aber auch meinen Nachbarn - wurde nun bewußt, daß Musik auch Bässe haben kann. Die neuen sind nach wie vor recht klein, aber nach den JBLern, war nun jede Box ein akustischer Aufstieg. Ich bräuchte einen eigenen Salon als Musikzimmer.

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nnier - Mittwoch, 22. Februar 2017, 11:29
@vert - zuerst las ich: "jetzt bänge ich nur in regelmäßigen" etc., da dachte ich, stimmt, das ändert sich mit den Jahren.

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vert - Mittwoch, 22. Februar 2017, 12:16
achnaja. kommt drauf an, wie groß die abstände sind.
(wie gut, dass ich nix über die vergoldeten bananenstecker schrub)

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kid37 - Mittwoch, 22. Februar 2017, 12:22
Für Hifi-Esoterik bin ich zum Glück nicht anfällig. Mit anderen Worten: Ich bin genügsam.

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vert - Mittwoch, 22. Februar 2017, 16:42
ja, das ist echt furchtbar, wenn die kollegen dann keine musik mehr hören, sondern nur geräte.
ich hab da leute kennen gelernt, die waren der überzeugung, sie könnten hören, wenn eine cd gebrannt ist und haben scripts geschrieben, um nullen und einsen zu vergleichen um dann zu triumphieren, wenn da mal eine abhanden gekommen war... "hab ich doch gleich gehört!"- wunderschön. mein lieblingsprodukt war immer die sunleiste, eine steckerleiste, die irgendwie ionen sortiert, weil der wechselstrom die ja alle durcheinander bringt. oder so.

edit: hahaha, die gibt's ja immer noch!! und ganz viele me-too-produkte! gut, dass ich das alles irgendwann nicht mehr verfolgt habe.

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