Wer bist du, der mir selbst entgegenstarrt?



In meinem neo-empfindsamen Roman Ausgestoßen - Nachdenkliche Betrachtungen eines sentimentalen Nacktschneckenzüchters (Hamburg: Officin Brandmüller Nachf., 1911) beschreibe ich die Irrungen und Wirrungen nachtaktiver Gesellschaften und die ewig-alte Frage nach dem WoherWohin. Der Held, die titelgebende, mittelalte abgeranzte Type, wundert sich, das irgendwas mit seinem Selbstbild kaputt ist. Erst will er es nicht wahrhaben, aber dann bemerkt er, daß sein Schatten ein anderes Bild von ihm wirft als er selbst von sich hatte. O, verräterischer Schatten, den du wirfst!

Hier driftet der Roman in schwarzromantische Wälder ab, klopft am Haus der Doppelgänger an, legt eine Brotkrumenspur ins Revier einer finsteren schwarzen Katze und bringt einen alten orientalischen Automatenbauer ins Spiel, der mit raunender Stimme "Hm" und auch "Hmhm" sagt und von eitrigen Geschwüren spricht, die ein Monster namens Arbeit ins bleiche, der Sonne niemals zugewandte Fleisch frißt: "And therefore never send to know for whom the Fabriksirene tolls; It tolls for thee." Von einem mißtrauischen Mob gejagt, flüchtet der Held aus einer mit schräggestellten Laternen bloß spitzwinklig erleuchteten Hafenkaschemme durch diagonal angelegte Kopftsteinpflasterstraßen und greift sich entsetzt ins schüttere Haar.

"Zu hülf! Zu hülf! Ich bin nicht mehr ich selbst!" ruft er aus, eine schwarzweißgedrechselte Spirale dreht sich dabei in seinen Augen. "Ich schau schon lang nicht mehr geradeaus!" Passanten ducken sich erschreckt in dunkle Hauseingänge, der Held torkelt weiter, "wann, wann wird Urlaub sein?" Ein schwarzer Vogel aber krächzt nüchtern "Nevermore!"

Homestory | 21:33h, von kid37 | Kondolieren | Link

 
ladys smock - Mittwoch, 31. August 2016, 00:58
ich bin davon überzeugt, dass dies ein so beeindruckend scharf gesetzter Text ist, dass niemand auch nur den kleinsten Punkt hinzufügen mag.

(wehe, es setzt jetzt jemand nur einen Punkt als Kommentar!)

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kid37 - Mittwoch, 31. August 2016, 12:06
Das ist messerscharf bemerkt. Die haben alle Angst, weil sie spüren, wie sehr ich in die Ecke getrieben bin und so ein Blitzen in den Augen habe. Wenn man genau hinsieht, ergeben die hellen Punkte "Urlaub! Ich brauch Urlaub!" Und dann frage ich mich, dieser Hebel auf diesem Kästchen, auf dem "Detonation" steht... was der wohl bewirken mag?!?

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ladys smock - Donnerstag, 1. September 2016, 02:56
Das Gefühl, dass Sie gerade durch meinen Bildschirm förmlich aus dieser Enge herausexplodieren, ist plötzlich sehr stark.
Das sind sicher Kräfte, die durch einen anderen Planeten verursacht wurden, was sage ich, durch ein anderes Sonnensystem!!

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kid37 - Donnerstag, 1. September 2016, 15:09
Sie haben ein feines Gespür. Und verstehen wenigstens die Brisanz dahinter, das gelingt auch nicht jedem. Heute gab es in der Fabrik Sirenenalarm. War ein angekündigter Test, aber kurz dachte ich, ich hätte das ausgelöst. Funkenschlag. Nun aber bin ich taub und fühle höre nichts mehr. T -1, dann darf und muß (!) ich dringend mal durchatmen.

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ladys smock - Freitag, 2. September 2016, 00:51
Umsonst scheine ich ja jetzt nicht zu lernen von lateral and cardinal signs, von variation and deviation, also von Grund auf navigation through rough seas.
Das Gespür in den Fußsohlen, wenn der Anker auf sandigem Grund nicht hält und das Boot unter den Füßen vibriert, keinen Halt findet.
Hat das vielleicht gar nichts mit Segeln zu tun?

Sirenen ? Sie f̶̶ü̶̶h̶̶l̶̶e̶̶n̶ hören nichts mehr? Test? Was soll ich jetzt davon denken? Danach tief durchatmen?
Ja, gewisse Sirenen können das durchaus auslösen.

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kid37 - Freitag, 2. September 2016, 15:15
Wir sind ja alle nur Schiffe auf hoher See, heißt es so beunruhigend hier an der Küste. Die Sirenen aber waren ganz buchstäbliche, keine Mythenmädchen aus der Antike. Ich arbeite ja in einer brandgefährlichen Branche, da machen regelmäßige Feuerübungen Sinn. (Wir haben hier auch eine Notbrücke für Hochwasser!)

Mein Boot jedenfalls muß dringend ablegen. Selbst die Kollegen, sonst tief in Arbeit vergraben, murmeln davon, ich sähe irgendwie "ausgelaugt" aus. Heute Abend mit der Flut lichte ich hier den Anker.

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carodame - Freitag, 2. September 2016, 15:32
Oh, dann Leinen sowas von los!
Im Mantel aus Schnee und Eis wird der Funkenflug ungefährlich
und Sie können alle Tasten spielen - Gute Reise -
Beim Friseur habe ich den Mut zum punktfreien Kommentar - Puhh!

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ladys smock - Freitag, 2. September 2016, 20:41
Bravo!
:)

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kid37 - Freitag, 2. September 2016, 21:15
Gemach. Ich meinte, dann mache ich Feierabend. Alles andere... nun ja. Ein schwieriges Thema. Jahr für Jahr. ;-)

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noemix - Montag, 5. September 2016, 11:33
Ein postmodernes Epos, getragen von atmosphärischer Dichte, welche ein affektiv-emotionales Szenario der semantischen Homogenisierung von Protagonist und Ambiente, d.i. Figur und Umwelt, induziert.
Stilprägend, Chapeau! ;)

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