Strikt, aber limitiert



Weil Erinnerungen flüchtig sind, hält man sie gern fest. Also gern auch richtig fest. Zun den schönen Überlieferungen des Viktorianismus gehört der tief in den Alltag verankerte Reliquienkult: die Locke vom Liebsten, der erste Milchzahn und das Foto vom toten Verwandten. Mit dem Aufkommen der Fotografie im 19. Jahrhundert ergab sich eine nie gekannte Möglichkeit, die Verstorbenen zu bewahren - oder besser die Erinnerung an sie: im Abbild. In Festtagskleidung gewandet saßen sie im Stuhlkreis unter den noch lebenden Familienmitgliedern, die auf den Bildern meist gleichsam tot wirkten, waren doch die Belichtungszeiten in der damaligen Fotografie so lang, daß die Porträtierten unnatürlich lange starr verharren mußten. Im Zeitalter der hohen Kindersterblichkeit wurden so auch Frühstverstorbene abgelichtet - oder aber die lebenden Säuglinge im Schoß ihrer im Kindsbett gestorbenen Mütter.

Ein für heutige Verhältnisse merkwürdig und morbide scheinender Erinnerungskult, dabei ist das Festhaltenwollen und Besitzenwollen des Flüchtigen doch ein uralter menschlicher Impuls. Den Augenblick festhalten, das Vergängliche bannen: Goethe und Geburtstagvideos verdanken beide ihren Erfolg diesem Eifer.

Tessa Kuragi und Jon-Ross Le Haye, wir kommen in die Gegenwart, füllten ein altes verziertes Fotoalbum aus dem 19. Jahrhundert, ein Flohmarktfund, mit solch fragilen Bildern: Sie konservierten die blauen Flecken, die sie im Laufe ihrer sadomasochistischen Beziehung sammelten: verblassende Momente und Erinnerungen an ganz besondere Momente. Der Reprint dieses Bruise Book ist auf 50 Exemplare limitiert, meins trägt die Nummer 31, was fast aussieht, kommen wir zum Zahlenfetisch, wie eine 37. Knapp vorbei, oder Autsch! wie wir in bibliophilen Fachkreisen sagen.

Die französische Fotografin Féebrile lernte ich vor ein paar Jahren auf einem Konzert von Ödland kennen. Ihr kleiner liebevoll gestalteter Band Pola et les autres dokumentiert auf Polaroid besondere Inszenierungen, Momente und intensive Begegnungen. Sehr charmant. Mein Exemplar ist die Nummer 38 von 100, das ist schon provozierend nahe an der 37, aber nun muß man auch als Sammler mal Fünfe gerade sein lassen, um im Zahlenbild zu bleiben.

Ein schönes, recht ordentlich sortiertes Unterfangen also. Damit wir uns aber auf Buchmessen und Kunstauktionen nicht ins Gehege kommen, schlage ich vor, ihr sucht euch eine andere Zahl aus, der ihr hinterhersteigen wollt.

Tessa Kuragi, Jon-Ross Le Haye. Bruise Book. o.O., o.J. (2015)
Féebrile. Pola et les autres o.O., o.J. (2015)

Ex Libris | 21:37h, von kid37 | Kondolieren | Link

 
frau eff - Donnerstag, 11. Februar 2016, 16:12
Hämatome der Liebe, das wird sich mir auch in hundert Jahren nicht erschließen. Wobei die jüngste Jugend da weiter ist. Eben bei Rewe an der Kasse unterhalten sich zwei Grundschulkinder über einen Mitschüler: „Der kneift die immer in den Arm, der ist bestimmt der ihr Verliebter!“

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kid37 - Donnerstag, 11. Februar 2016, 16:22
"The Kids Are Alright" (The Who), "die einen so, die anderen so" (Straßenweisheit). Ich zeige meine Liebe ja durch moralische Erbauungsmaßnahmen: "Sortier den Müll doch bitte richtig!" kommt super an (jetzt schon an den Valentinstag denken!). Auch sehr romantisch: "Da putzt du aber noch mal drüber oder?" Charme und Freundlichkeit schlagen doch locker jedes Hämatom.

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frau eff - Donnerstag, 11. Februar 2016, 17:06
"schlagen locker" ist super, in dem Zusammenhang

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carodame - Sonntag, 14. Februar 2016, 13:30
Tolles Geschenk zum Vanlentinstag: Die hübsche Konservierung der Wundmale, ergänzt durch den Zyklus an Tyraden, im Epilog die Zerstörung des Hausrates. Gut ausgeleuchtet. Unkommentiert.
Eine Geschäftsidee?

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kid37 - Sonntag, 14. Februar 2016, 23:32
Oh, das wäre eine gute Idee. "Streitende Paare", und dann nur Fotos von zerschmissenen Tellern. Ach was, "Verwerfungen" wäre der Titel. Man könnte eine weltweite Reihe daraus machen: "Verwerfungen 1: Zerschmissene Teller in Norwegen", "Verwerfungen 2: Zerschmissene Teller in Deutschland", "Verwerfungen 3: Zerschmissene Teller in Italien"... Wäre eine schöne Kulturstudie über Liebe und Tischkultur.

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carodame - Montag, 15. Februar 2016, 11:38
"Verwerfungen"klingt gut.
... "oh, tut mir leid, Italien ist ausverkauft, nehmen Sie doch die Schweiz."...

Bilder im Moment des Einschlages wären wünschenswert.
(Betrachten sie diesen Moment als die Geburtsstunde der Streitfotografie.)

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ana - Dienstag, 16. Februar 2016, 19:18
Ich bin auch so ein Erinnerungskrämer, der versucht die Vergangenheit festzuhalten, zumindest in Form von Dingen, Bildern, Schriftstücken... Ich habe sogar noch meine vor nicht Jahren, sondern schon vor Jahrzehnten gezogenen Weisheitszähne. Sie waren nicht kariös, mein Kiefer war aber zu klein dafür. Nun passt die Weisheit, ein bisschen werde ich mir schon erworben haben, nicht kontinuierlich dahin wo sie eigentlich gehört, also ein Stück weiter oben ins Gehirn.

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kid37 - Donnerstag, 18. Februar 2016, 20:49
Schade, jetzt finde ich das Foto nicht mehr. Da gab es ein schönes Reliquiar für einen Zahn, reich verziert und sehr präsentabel. Mit solchen Dingen könnte man eine schöne Sammlung gestalten. Andenken an Lebensreisen.

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prieditis - Freitag, 19. Februar 2016, 01:45
Da schau her! Mir fällt es wie Schuppen von den Augen. Las ich doch vor geraumer Zeit ein Brevier über den Großen Krieg.
Darin waren einige Lichtbilder von in der ersten Schlacht gefallenen Soldaten enthalten. Hübsch drapiert auf einem Stuhl in einem Fotostudio.
Weder das Brevier (es war wohl ein Fix und Foxi Comic eine Graphic Novelle, im Zweifel von Tardi) noch ich konnten erklären, warum man dies tat.
Jetzt weiß ich es! Weil man es eben immer schon so gemacht hatte.
Ein kleines Stück Sicherheit in unsicheren Zeiten.
Haben Sie vielen Dank!

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kid37 - Samstag, 20. Februar 2016, 15:28
Stillhalten. Aber gut gekleidet. Immer eine Option. Zur weiterführenden Lektüre betrachten Sie bitte hier.

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