Einsicht, Aussicht, Durchsicht
Wenn ich morgens geweckt werde, finde ich mich ja wie in diesem Video von Ane Brun wie ein verwirrter alter Mann leicht verwirrt in der Welt wieder, kaum den eigenen Augen oder ihrer kleinbuchstabenverpixelten Sehkraft trauend.
Mein Weg heute führte mich daher für die weitere eigene Frank-Walter-Steinmeierisierung endlich zum Optiker meines Vertrauens, denn nach 15 Jahren Kid37-Brille (so stellten wir mit einem Blick auf die wohl letzte handbeschriebene Kundenkarteikarte im Wirtschaftswesen fest) ist es an der Zeit, neue Zeichen ins Gesicht zu setzen. Ich probierte also einige Ausrufezeichen und auch einige Fragezeichen aus, liebäugelte kurz, nur des Experiments halber, sogar mit einem Semikolon; das sieht bei mir merkwürdig aus. Da der Designer meiner alten Brille, ein Franzose mit vielen "i", nach Italien transferiert wurde, griff ich schließlich zum Weltmeistermodell aus hiesiger Produktion (oder jedenfalls Gestaltung) und erwarte, daß sie mich nun bis ins Finale trägt.
Oder ich sie. So rum ist es, glaube ich, richtig. Zurück in die heimischen Stallungen gekehrt, habe ich - nachdem ich das Kobe-Rind massiert und die Champagnerflaschen gedreht hatte - zur Pause ein wenig gedankenverloren auf der Straße an meinem Fahrrad gelehnt (Symbolfoto), als es (das Rad, nicht das Rind) mit metallischem Gelärme zu Boden kippte. Zwei freundliche Passantinnen eilten hinzu, die eine begab sich sogar daran, mein Rad wieder aufzurichten, "das schöne Rad, das schöne Rad!" rufend. So viel Hilfsbereitschaft und ästhetisches Bewußtsein liegt in diesem Viertel! Leider ist nun der Lenker etwas zerschrappt, das Rad folglich nicht mehr ganz so schön, aber dafür - wenn man scharf hinschaut, was ich demnächst wieder tun kann - unterscheidbar geworden. Nichts hält ewiglich, notierte ich gleich in meinen Bauernspruchkalender, der mir dereinst viel Geld und Anerkennung bringen wird, wenn ich beruflich durchgewalkt und ausgewrungen meinen Platz in der Geschichte suchen werde.
Man muß eben zur Einsicht kommen! Genauer hinschauen, die Brille mal besser als mit einem T-Shirt putzen. Denn die Wahrheit ist doch die: So wie haushaltsübliche Zollstöcke und Lineale im Kleinbereich bis ca. 30 Zentimeter grobe Ungenauigkeiten aufweisen und oft zuviel anzeigen, so aufgespreizt ist die Dichotomie zwischen Fremd- und Selbstwahrnehmung, gerade auch im Internet. Nehmen wir zum guten Schluß folgende beispielhafte Beispiele, repräsentativ zusammengetragen:
- wie ich mich sehe: *
- wie ihr mich seht: *
- wie ihr euch seht: *
- wie ich euch sehe: *
Denkt also immer daran, was in meinem Bauernspruchkalender steht: Man sieht nur mit der Brille gut.
Sie haben eindeutig den Durchblick. Sehr amüsant :)
Tut mir leid, wegen der Schrammen - auch am Rad. Zum Glück ist die neue Brille dabei nicht zu Bruch gegangen. Das wäre doch ein Klassiker gewesen.
Die Brille ist nächste Woche fertig, die Gläser müssen noch geschnitzt werden. Ich bin gespannt.
Ihr Symbolfoto gefällt mir sehr, also so symbolisch gemeint!
Schöne Träume haben Sie. (Ich auch.)
Müsste das Selbstbild, zumal jetzt mit neuer Brille im Kopf, nicht etwas mehr Tiefenschärfe haben? Zudem kann man mit Revolver in der Hand denkbar schlecht Fahrrad fahren.
Wieso? Geht doch mit 'ner Flasche Bier in der Hand auch. Die Brille ist ja nächste Woche erst fertig, ich bin da schon ganz hibbelig, wie das mit dem Durchblick wird. Dann aber: Mehr Tiefe! Mehr Schärfe! Mehr Schilder, die ich lesen kann!
Aber auch doppelte Arbeit beim Hausputz!
Der Optiker meinte, fürs Arbeiten sollte ich ruhig weiter die alte tragen. Vielleicht ahnte er schon was.
Apropos Tiefenschärfe. Da stolpere (hihi!) ich immer wieder mal drüber. Kann mir einer von Euch Optophilen bitte gelegentlich den Unterschied zur Schärfentiefe erklären? Oder ist das nur so ein doofes Deutsch-Ding wie im Englischen point in case / case in point?
In der Fotografie ist das technisch ein und dasselbe, "Tiefenschärfe" hat sich umgangssprachlich eher durchgesetzt, jedenfalls höre ich das auf der Straße öfter als "Schärfentiefe". Ich glaube, in der Mikroskopie wird da noch unterschieden. Und garantiert in Besserwisserforen in diesem Internet. ;-)
Oweia. Neue Brille. Das kann, muss aber nicht ganz neue Perspektiven eröffnen. Immerhin, wie schon der Volksmund sagt: Eine neue Brille ist wie ein neues Leben.
(Seit ich das letzte Mal nach Jahren von 6 auf 8 Dioptrien umgestiegen bin, weiß ich genau, was das bedeutet.)
Ich bin gespannt, wie sehr mich das neue Gestell verändern wird. Man paßt sich dem ja irgendwie auch innerlich an. Als ich mit meiner aktuellen anfing, war das ja als hätte ich nochmal Abitur gemacht.
Dann ist ja jetzt bald das Zweite Staatsexamen dran.
So, neue Brille abgeholt, neue Gläser sind auch schon drin. Das ist ja eigentümlich. Die Welt, das müßt ihr wissen, geht da hinten ja noch weiter! Und alles so klar. Und scharfe Frauen! Also, Frauen sehe ich jetzt scharf, so rum. Und Menschen allgemein, natürlich. Die sehe ich alle sehr genau. Und Schilder. Wußtet ihr, daß auf Schildern was draufsteht? Das man dann lesen kann? Das ist schon alles sehr durchdacht.
Leider muß ich jetzt noch mehr aufhochschieben, Brille rauf, Brille runter. Vor allem, wenn ich uff Arbeit am Gußofen stehe. Da kann ich die Schilder wieder nicht lesen. Das mache ich jetzt sozusagen oben ohne. Löst man ein Problem, schält sich ein neues heraus. Das habe ich jetzt soweit scharf erkannt.
Ja, das muss wohl leider so sein ... Aber sonst wär' Ihnen das Leben ja sowieso zu schal, oder?!
Action muß sein. Früher schob ich über Tanzflächen, jetzt schiebe ich die Brille rauf und runter.
Herr Kid mit einer neuen Brille? Sie sehen mich fassungslos.
Was sagt die Barocklyrik dazu? "Mensch, verändere dich, sonst endest du!"
sie haben sicher auf sich aufgepasst; denn beim optiker muss man wachsam sein wie ein indianer auf der pirsch: einmal kurz nicht aufmerksam gewesen und man verlässt den laden mit einem "flotten modell". auch wenn worte wie "pfiffig" fallen, sollte man umgehend die flucht ergreifen. selbst dass wort "modern" bdeutet im vokabular der optikerzunft häufig nur das grauen.
aber sie sind ja nicht taub. oder: hoffentlich schon - für derlei einflüsterungen.
Die Brille, Herr Mark, ist solide gefaßt. Ich dachte, im Alter muß man ein Ausrufezeichen setzen. Blaue Haare dann als nächster Schritt.
Mein Optiker führt zum Glück auch nicht diese Modelle, linke Seite rotes Quadrat, rechte Seite lilafarbenes Dreieck, Herr Vert. Ich kam da recht schnell zum Zuge: So wie meine alte, nur mit dickerem Strich. Heute konnte ich bei meinen Lieblingsbäckereifachverkäuferinnen die Brotpreise hinten am Regal lesen. Die Damen waren sehr beeindruckt.
ich trag ja seit über fünfzehn jahren immer ein ähnliches modell, gekauft in unterschiedlichen städten in unterschiedlichen läden. und selbst wenn ich in den laden gegangen bin und gesagt hab:
ich bin an einer stelle im leben konservativ: sehen sie diese brille? die hätte ich bitte gerne wieder. nicht exakt die gleiche, aber material (metall), form und farbe (eher dunkelsilber) dürften schon eine gewisse ähnlichkeit haben, capiche?,
hatten trotzdem locker die hälfte der "optiker*innen" die nerven, mir ein "modernes" kunststoffgestell in die hand zu drücken. das wurd dann meistens immer etwas ...unerfreulich.
ich überleg allerdings mittlerweile schon seit einem jahr, ob ich nicht vielleicht doch mal...
Lindenberg kam auf die Zeile "Hinterm Horizont geht's weiter" auch erst, als er vom Optiker kam.
Laufe seit vielen, vielen Jahren mit der gleichen Brille rum. Japanischer Rahmen, dünn geschliffene Gläser und sonstiger Pipapo. Immer noch schön. Aber, aber. Mittlerweile kann ich ohne die Brille auf der Nase viel besser lesen! Die Fernsicht dagegen ist immer noch gut. Daher gehts noch. Muss ja auch. Ein Prozess, der bei mir übrigens im Alter von 37 begann.
Es soll alles im Rahmen bleiben! Der Optiker, zu dem ich gehe, hat das schon ganz gut im Blick und führt im Grunde auch nur so Kid37-Brillen. Da könnte auch Herr Lindenberg seine Sonnenbrillen kaufen.
"Japanischer Rahmen", Herr Cut? Das klingt nach scharf, filigran und unglaublich leicht, aber wahnsinnig haltbar. Gleitsichtgedöns folgt dann auch bald. Es hat schon einen Grund, warum ich fast nur noch Bildbände lese.
Ganz genau! Ich dachte, dass passt zu mir.Sie kennen das Modell? Aus einem Material übrigens, dass sich auch im Rennradbau bewährt hat. Vor der Carbonära natürlich.
Ah. Takefu Suminagashi. Ich glaube, das Schwert aus Kill Bill war daraus.