Nur heute gratis



Die Komplimente waren leider alle schon weg, aber da heißt es einfach tapfer sein und den Glauben nicht verlieren. Der Tag strahlt auch so zurück, wie man in ihn hineinstrahlt, sonst druckt man sich einfach selbst ein paar aus und klebt die Zettel in die Waschküche, dort, wo schon jedes Welt- und Nachbarschaftsproblem gewälzt und gewalkt, gestampft und ausgewrungen wurde.

Heute wird in Hamburg gewählt. Da man diesmal nicht nur eine oder zwei, sondern gleich zwanzig (20) Stimmen vergeben darf, wurde an alle Wahlberechtigten eine Musterfibel verschickt, wo man schon mal nachschauen konnte, welchen Dachdecker und Gas- und Heizungsinstallateur man in Zukunft besser nicht beauftragt. Er könnte auf Rechtsaußen spielen. Nicht zugesendet jedoch wurde mir eine Wahlbenachrichtigung, aber nun reicht bekanntlich auch ein Personalausweis. Wenn man denn das Wahllokal findet. Die Sparkasse, in der ich sonst wählte, hatte diesmal geschlossen, also fragte ich im nächstgelegenen Lokal in der Pfarrgemeinde um die Ecke nach. Das macht ja auch Sinn, ein Wahllokal in der Nachbarschaft, nur all die Vorjahre nicht, da mußte ich woanders hin. Wo ich schon überall wählen war: In der Sparkasse, in einer Schule, die jetzt keine mehr ist, in einer ganz anderen Schule, wieder in der Sparkasse... "Wo waren Sie denn das letzte Mal wählen?" fragte man mich im Wahllokal. Himmel, dachte ich, diese Fragen immer. Wo sehen Sie sich in fünf Jahren? Wo waren Sie vor fünf Jahren? Wenn ich das alles wüßte. Ist es nicht die Gegenwart, die zählt? Also, ich sei schon überall gewesen: In der Sparkasse, in der Schule, die jetzt keine Schule mehr ist, in der ganz anderen Schule, wieder in der Sparkasse - und ob das nicht eigentlich egal sei, immer dieses was früher war, man möge doch bitte meine Adresse in der Liste suchen und die zugehörige Nummer des Wahllokals?

Leider, muß man fast sagen, war ich schon ganz richtig dort, also das erste Mal im Wahllokal gleich um die Ecke. Wäre früher wohl zu einfach gewesen. Leider, weil es eine lange Schlange gab, als fände dort ein verkaufsoffener Sonntag statt. Menschen, die kaum ihren Namen buchstabieren können, campierten in den Wahlkabinen, um ihre zwanzig Kreuze (20) in den vier unterschiedlich gefärbten Fibeln (Uringelb, Schwangerschaftstestblau, Partnerlookfunktionsjackenviolett und so eine Art Lebensmittelschimmelgrün) zu verteilen. Ab und an reichten Helfer warme Getränke oder kräftigende Stullen nach, dem Seufzen und Stöhnen und der aufsteigenden Wolke kleiner Fragezeichen nach zu urteilen, war es für manche kein leichter Akt.

Ich hingegen, man muß sich ja auch mal selber gratis Komplimente machen, verteilte meinen Chor von (20) Stimmen wie mit leichter Künstlerhand, großzügig über die Seiten, hier ein Tupfer, dort eine Linie - ich denke, wer die einzelnen Punkte mit spitzem Bleistift verbindet, wird darin eine "37" erkennen können.

Erstmals vor Ort waren auch UNO-Wahlbeobachter clipboardhaltende Menschen der Forschungsgruppe Wahlen, die für das ZDF Wähler befragten. Mich allerdings, hier kommen wir zu einem kleinen Skandal, bei dem es keine zwei Meinungen geben darf, wollte man übersehen. "Sie befragen mich ja gar nicht", protestierte ich. "Nein, wir nehmen nicht jeden", erhielt ich zur Antwort. Nun halte ich selbst viel davon, nicht einfach jeden zu nehmen, das hat auch was mit Würde und Respekt vor sich selbst zu tun. In diesem Fall aber muß ich sagen, wird dies natürlich einen sehr verfälschenden Ausgang auf die Wahlprognose nehmen.

Wenn also gleich die Hochrechungen im ZDF verkündet werden, seid auf der Hut. Zwanzig (20) Stimmen flossen darin nicht mit ein! Kompliment, ZDF. Ihr traut euch was.

Homestory | 18:40h, von kid37 | Kondolieren | Link

 
zeilensturm - Sonntag, 20. Februar 2011, 21:18
Meine 20 Stimmen ...
... hat alle der nette Christoph Ahlhaus von der CDU bekommen:
"Tschü-hüs!"
"Vollpfosten""
"Maurermeister!"
"Provinz-Pinscher!"
"Polizeiorchester-Leitkulturdezernent!"
... und das waren erst fünf Stimmen eines ungemein vielstimmigen Chores. Merkwürdig, dass es trotzdem nicht zu mehr als 20 Prozent gereicht hat. Aber das ist wohl Wahlarithmetik. Übrigens ungefähr so viel % wie damals Schill, nur mit etwas anderen Vorzeichen. Und jetzt zurück in deine steuerzahlerfinanzierte Hochsicherheitsvilla, Ahlhaus Darling!

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kid37 - Montag, 21. Februar 2011, 11:59
Oh. Das Polizeiorchester. Unser Kulturaushängeschild. Wer wird jetzt zur Eröffnung der Elbphilharmonie blasen... Na ja, Herr Alhaus hat's gut. Der sitzt jetzt im für 1-Mio gesicherten Häuschen.

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hr.fuenfprozentfrau - Sonntag, 20. Februar 2011, 21:36
Woher kennen Sie schwangerschaftstestblau?

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kid37 - Montag, 21. Februar 2011, 11:57
Das war noch in der Zeit, ehe man mir verklickerte, daß man vom Küssen gar nicht schwanger werden kann. Waren das manchmal nervöse Stunden!

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mark793 - Sonntag, 20. Februar 2011, 21:49
Nehmen Sie es nicht persönlich, dass die FGW-Interviewer Sie beim exit poll nicht haben wollten. Ich hatte für diesen Verein zu Studizeiten Umfragen telefoniert, und da gab es auch seltsame Regeln, wie im Zielhaushalt die zu befragende Person zu ermitteln sei (es musste unbedingt diejenige Person über 18 sein, die als letztes Geburtstag hatte). Ich nehme an, für die Personenbefragung am Ausgang des Wahllokals existieren ähnlich komplizierte Regularien, die eine Optimalverteilung innerhalb der Stichprobe gewährleisten sollen.

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frau klugscheisser - Montag, 21. Februar 2011, 00:01
Die von Mark beschriebene Art des Auswahlverfahrens ist ein gängiges in der Sozialforschung und keinesfalls seltsam. Hat mit Reliabilität und Validität von systematisch zufallsgesteuerten Auswahlverfahren zu tun (random route).

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mark793 - Montag, 21. Februar 2011, 00:17
Seltsam
aus Sicht der Angerufenen meinte ich. Uns Interviewern (zumindest denen, die auch mit Sozioempirie ein wenig vertraut waren) war das ja schon klar, warum man keine Stichprobe von Zuerst-ans-Telefon-Gehern haben möchte. Erklären Sie das aber mal den z.T. etwas simpleren Gemütern am anderen Ende der Leitung, die sich gefreut hatten, endlich mal gefragt zu werden und die sichs dann doch verkneifen mussten.

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kid37 - Montag, 21. Februar 2011, 11:55
Natürlich suchen die nach gewissen Regeln einen repräsentativen Querschnitt, in diesem Fall fällt halt auf, daß auschließlich nach dem Äußeren entschieden wurde. Gefragt haben die ja nichts. Mit anderen Worten: andere Jacke, andere Mütze, anderes Auftreten (ich hatte mich extra rasiert!) - und schon wäre ich als typischer Biedermann Jungdynamiker dabei gewesen. So hat man mich wahrscheinlich bei der Rentnerpartei verortet - und Splitterparteiwähler bringen natürlich nichts für die Prognose.

(Das ZDF, das muß ich einräumen, prognostizierte deshalb trotzdem genauer, so mein Eindruck.)

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mark793 - Montag, 21. Februar 2011, 12:20
Ich vermute ja,
dass die angestrebte Repräsentativität eher am Alter festgemacht wird als am Outfit. Und zum anderen weiß man ja nicht, ob vor Ihnen schon eine ganze Alterskohorte von 37-jährigen mit Brille und schanzenkompatiblem Outfit zur Stimmabgabe geschritten ist.

(Ich habe es in den letzten Jahren nicht mehr so genau verfolgt, wie nah oder fern die Institute mit ihren Prognosen vom Schuss lagen, aber die FGW genießt bei mir immer noch einen kleinen Vertrauensvorschuss.)

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g. - Dienstag, 22. Februar 2011, 07:41
Sie armer Mensch haben keine Komplimente bekommen?
Skandal! Dabei waren Sie so sorgfältig rasiert, das hätte der Befrager ja wenigstens hervorheben können. („Sie sind wunderbar rasiert heute, Herr Kid. Leider nehmen wir für unsere Analyse nur unrasierte unter 37. Beim nächsten Mal sind Sie aber dabei!“) Vielleicht könnte eine der anwesenden Damen die Komplimente nachliefern?

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kid37 - Dienstag, 22. Februar 2011, 12:59
Na, Sie haben's aber drauf. Sie könnten auch so Zettel zum Verteilen aufhängen. Ich bin ja immmer kritisch, mit denen, die ich mag. Genau so hätten die Damen und Herren Wahlbeobachter reden und die Situation überspielen sollen! Empathie! Aber die hatten zu sehr ihre Clipboards im Blick. Heute bin ich unrasiert, mal sehen, was die Damen beim Edeka gleich sagen werden, wenn ich dort meine Milchspeise zum Mittag hole.

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c17h19no3 - Dienstag, 22. Februar 2011, 09:20
Partnerlookfunktionsjackenviolett

ich bin irritiert. ich kenne die nur in

a) rot/orange (mit sportlicher aura) für ab mittfuffziger (so genannte "best agers"), die sich dem grab noch recht fern fühlen, samstags vor der tagesschau nordic walking machen (da sind auffällige farben auch gut, falls man im park überfallen und verschleppt wird) und sonst ihre freizeit damit verbringen, die hecke symmetrisch zum zaun zu schnippeln

b) beige-grau für ab mittsiebziger, die ganz gerne mit der farbe schmutzigen asphalts verschmelzen, wohl, um schon mal das erdennah zu üben.

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kid37 - Dienstag, 22. Februar 2011, 12:54
Doch, doch. Flieder bis Lila: Das sieht man immer wieder bei so mittelalten Pärchen mit Handgelenksdigitalkamerabändchen und Känguruhbauchtasche vor dem Rathausmarkt oder an den Landungsbrücken. Wenn man sich so richtig eingemauvet hat.

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vert - Dienstag, 22. Februar 2011, 15:07
farblich ein erbe der neunziger: mit den ballonseidenen trainingsanzügen aus diesem farbspektrum hat alles angefangen, allerdings war da zudem oftmals noch türkis im spiel...

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nnier - Dienstag, 22. Februar 2011, 15:10
Was denn, die sind doch bequem!

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kid37 - Dienstag, 22. Februar 2011, 16:28
Noch ist die Stelle nicht besetzt, aber sollte ich Kultursenator werden (Apropos, bitte nicht bei mir anrufen, ich muß die Leitung freihalten, falls jemand aus dem Rathaus anruft. Danke!), werden die Dinger verboten.

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vert - Dienstag, 22. Februar 2011, 16:46
ich bewerbe mich hiermit auf die stabsstelle "ästhetischer leiter stilpolizei".
ich stelle mir dabei so etwas wie die revolutionären garden vor.
(ohne auspeitschen und so. obwohl.)
tut mir leid , herr nnier, die miete muss rein.

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kid37 - Dienstag, 22. Februar 2011, 23:01
Sehr gut. Das Ressort wird fähige Leute brauchen, und einer Umwelthauptstadt steht auch Geschmack gut zu Gesicht.

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c17h19no3 - Mittwoch, 23. Februar 2011, 09:23
an besagte trainingsanzüge aus ballonseide kann ich mich auch noch gut erinnern. unsere sport- und biolehrer trugen die mit unheimlicher konsequenz.

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prieditis - Mittwoch, 23. Februar 2011, 09:38
Das würde natürlich das Bild der Stadt im Ausland heben, wenn sie verschwänden, die SFH.
Aber was geschieht dann mit den bequemen Gummibundhosen der Rächer-Kostüme?
Beschwört man damit nicht eine neue Form der Stadt-Guerilla, die diese Buxen heimlich, unter der Nieten-Doppelkappnaht-Bux trägt?
Und das Jäckchen, mit einer darüber gezogenen Weste, als topmodische College-Jacke tragen?

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kid37 - Mittwoch, 23. Februar 2011, 13:27
Seide, von der proletarierfleißigen Ballonraupe gesponnen, muß als Endpunkt der menschlichen Verhüllungsästhetik verstanden werden.

So betrachtet, dürfen auch diese gummigebundenen Rächerkostüme das Schlafzimmer niemals verlassen.

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kreuzbube - Donnerstag, 24. Februar 2011, 14:59
Ich dachte, in Hamburg sei längst Dittschemäßig der Bademantel en vogue?

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kid37 - Donnerstag, 24. Februar 2011, 15:44
Korrekt nur in der Version aus Kaschmir.

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kreuzbube - Freitag, 25. Februar 2011, 19:06
Kamelhaar ist auch eine schöne Sache.

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