Sonntag, 19. November 2023


Werkstattbericht


Bislang nur ein Prototyp: Der "Typomat 37" soll einmal die Büroarbeit revolutionieren

"Wir sehen dafür einen Bedarf von vielleicht einer Maschine. Weltweit." So beschied man mir bei der Start-up-Kommission in der Stadt ("Die Höhle der Seehunde"). Das war natürlich unterwältigend, also enttäuschend. Aber ein Erfinder muss nicht nur gut erfinden können, sondern darf auch nicht aufgeben. Mancher wird nun rätseln, was diese Maschine für ein Geheimnis hat. Nun, kurz gesagt, der "Typomat" soll einmal das Schreiben im Heimbüro oder im Kontor vereinfachen (ich bin, soviel sei zugegeben, noch im Entwicklungsstadium, einige technische Aspekte müssen noch gelöst werden, aber: "Mechanisierung first, Bedenken second!" ist das optimistisch unbekümmerte Motto, das auf einem Emailleschild in meiner kleiner Manufaktur hängt).

Mühsames Gekritzel mit Feder und Tinte wird der Vergangenheit angehören, wenn sich meine "Heimdruckmaschine" (zum Patent angemeldet) durchsetzen wird. Sie funktioniert (aus Werkschutzgründen vereinfacht dargestellt) so: Man drückt eine der elegant federnden Tasten und über eine komplizierte mechanische Transmission, für die ich sehr lange und kompliziert nachdenken musste, wird der entsprechende Buchstabe im bereits vorab patentierten "Ritzverfahren" aufs Papier gebracht. "Hallo Welt" war der erste Satz, den ich so verewigte (hier nachgestellt für den internationalen Markt in der englischen Sprache als "Hello World").

Jetzt heißt es, aus verschiedenen Fördertöpfen genügend Finanzmittel zusammenzubekommen, um eine kleine Serienproduktion zu starten. Aus den zu erwartenden Kundenrückmeldungen werde ich dann weitere Verbesserungen vornehmen und kleinere mechanische Unzulänglichkeiten ausbessern. Bereits jetzt aber bin ich überzeugt: Ist das (zugegeben zunächst noch ungewohnte) neuartige Schreibsystem erst einmal begriffen, will niemand mehr zum Füllfederstift oder gar zur einfachen Feder zurück.


 


Dienstag, 14. November 2023


Merz/Bow #73



Eines der schönsten Geburtstagsgeschenke (unter allerdings lauter schönen Geschenken) stammt von meinem Vater, der mir zwei Bakelitschalter ("Scheunenschalter") aus irgendeinem seiner unergründlichen Kartons mit Fundstücken, Elektronikteilen und Plunder Artefakten schickte. Ganz toll. Werde wohl den nichtssagenden Allerweltswippschalter in der Abstellkammer damit ersetzen. Das verhindert auch das unabsichtliche Ein- und Ausschalten im engen Gang mit Rücken oder Ellenbogen, wenn ich in einem meiner dort verwahrten unergründlichen Kartons mit Fundstücken, Elektronikteilen und Plunder Artefakten wühle.

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Der Künstler Marcus Merritt hat zwei zauberhafte Serien auf seiner Webseite. Zeichnungen von Stromleitungen und gleich nebenan noch einem mit gezeichneten Gegenständen aus Filmen von Irma Vep bis Twin Peaks.

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Mir selbst habe ich auch etwas gegönnt, denn so jung komme ich mit mir nicht mehr so schnell zusammen. Der schön gestaltete Bildband Developer Trays macht am Scheunenbakelitschalter das Licht in den Dunkelkammern dieser Welt (ok, eigentlich zumeist in den USA) an und zerrt die Entwicklerschalen hervor. Zerkratzt, bearbeitet, voller Silber-Patina, sind sie selbst zu Bildspurenträgern fotografischer Arbeit geworden. Eine Art zerfurchter Oberfläche von der dunklen Seite des Mondes, die John Cyr hier fotografiert hat (Webseite). Sehr faszinierend. Unbedingt lesenswert sind auch die Fußnoten: "Barbara Mensch abandoned removing the silver deposits on her tray after she scrubbed the bottom right corner", erfahren wir da und äußern Verständnis. Oder aber auch, dass Andreas Feiningers Entwicklerschale nun im Besitz von Ralph Gibson ist, der sie für seine eigenen Arbeiten nutzt. Wie ein Werkzeug oder Bakelitteil, das Elternteile an ihre Kinder weitergeben.

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John Cyr hat übrigens auch Fotos vom berühmten Gowanus-Kanal in New York City (das ist eine große Stadt in den USA) gemacht. Bei meinem kleinen Ausflug dorthin war ich selber mal dort (man geht ungefähr drei Stunden durch sengende Hitze und landet dann in einem Industriegebiet, das dem aus Antonionis Rote Wüste ähnelt, nur halt in grau). Rauchende Schlote, Zementwerke, komplett eingestaubte Schwertransporter, ein Gewirr aus Brücken, Überfliegern und aufgebrochenen Straßen und bis auf durchgedrehte Touristen und Fotografen keine Fußgänger. Der Kanal schimmert wochentagabhängig in allen Ölfarben, dennoch paddeln Enten (so called "ducks", ich kann nämlich Englisch) darin herum, es zischt und stinkt und zeigt eine Seite der Stadt, die, um eine häufig gebrauchte Reisebloggerfloskel zu gebrauchen, "so ganz anders ist als die Madison Avenue".

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Übrigens muss man durch sengende Hitze auch wieder drei Stunden zurück.

MerzBow | von kid37 um 17:10h | noch kein Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Montag, 6. November 2023


Gruselfamilienaufstellung



Derzeit spielen ja viele mit KI herum, bringen diesem Statistik-plapperndem Papageien also bei, wie man Texte schreibt oder Bilder malt. Ich habe mich damit ja auch eine Zeit lang intensiv beschäftigt und einen gewissen Spaß daraus gezogen, aber dann trat eine gesättigte Langeweile ein. Manche Formate, den pseudo-analogen Schmelz von Midjourney etwa, kann ich schlicht nicht mehr sehen. Der wohlige Schauder der ersten Nacht Ergebnisse, als ich dachte, Midjourney sitze in meinem Kopf und bringe meine Träume zu Papier, hat sich ebenfalls gelegt.

Gut hingegen, dass ich so viele Bilder aus dem 19. Jahrhundert von Flohmärkten und Dachklammern gesammelt habe und darüber erzählen kann. Wie dieses Familienbild einer Halloween-Nacht von 1871. Längst nicht so überdekoriert wie heutzutage präsentiert sich die viktorianische Musterfamilie (1 durch seinen Schnurrbart definierter Ehemann, seine ihm liebevoll angetraute Frau, 1 Sohn, 1 Tochter) bereit fürs Samhain oder wie auch immer man diese Spökerei um Allerheiligen bezeichnet. Ein dezenter (dafür wohl echter) Totenschädel (vom Erbonkel erhalten oder durch die damals verbreitete Grabräuberei günstig erstanden) auf dem Nachttisch, ein bisschen Schminke und Schrecken im Gesicht war zu diesen lampenölig beschimmerten Zeiten freudige Ausstattung genug, um kleinen Tricksern und Trötern, die abends zur Haustür schlichen, Schrecken einzujagen. Die Bediensteten verteilten selbstgebackene Kekse, die Familie schaute vom Herrenzimmer aus zu, bedacht, nicht mit dem niederen Gruselmob in Kontakt zu treten.

Obschon ich an Halloween ähnlich andeutungsweise verkleidet und mit der mir eingeschriebenen gewissen Gravitas auf einem Stuhl bei der Eingangstüre warte, das Glas mit meinen Emotional Support Leeches neben mir auf dem Boden, klingeln die kleinen Lauser seit Jahren nicht mehr bei mir. Gut, vierter Stock, das macht man mit dünnen Gespensterbeinen nur einmal. Zumal, wenn man dabei noch abgefragt wird über Sinn und Hintergrund des Festes, der sozial verbindenden Natur von Gebräuchen und Ritualen, den Unterschieden im Grad der Fröhlichkeit zum mexikanischen Totenfest, dem Aufzählen von wenigstens sieben Heiligen oder wahlweise irischen Städten oder europäischen Fledermausarten.

Wie heißt es? Es braucht ein ganzes Dorf von toten Geistern, um junge klappernde Gespenster zu erziehen.


 


Sonntag, 29. Oktober 2023


Rundgänge



Jedes Jahr dasselbe Spiel im Tourneeplan. Ende des manchen goldenen, anderen schon spukigen Oktobers ("Spooktober") heißt es, alle Fäden zusammenhalten, Nerven auch, Mitternachtsklingklong, wer hätte das gedacht und schon wieder eine neue Zahl, die man sich für Nachfragen merken muss ("37plus"). Das Entrée in den neuen Lebensabschnitt war öffentlich-rechtlich angemessen. Gezeigt wurde vom Bayerischen Rundfunk spät in der Nacht der Film "Das Omen" (1976). Darin geht es passenderweise um die Geburt eines Sohnes, dem von den Eltern böse mitgespielt wird (Vater verbietet ihm z.B. einen Hund). Am Ende muss die Polizei eingreifen und - ich spoiler hier mal - der Junge kommt doch noch in gute Hände. Da wird man schon nachdenklich, wie es mir bei Filmen durch Über-Identifikation aber öfter passiert.



Am Tag dann ein Ausflug zu einem von Hamburgs weniger bekannten Museen. Das auch von mir lange und vielleicht etwas hochnäsig umgangene "Medizinhistorische Museum" auf dem Gelände des Universitätsklinikums hat sich über die Zeit zu einem echten Schatz gemausert. Betreut von überaus freundlichen Menschen (vom Fach) beherbergt der hübsche Backsteinbau neben der ständigen Sammlung auch größere thematische Schauen und Wechselausstellungen mit korrespondierender Kunst.



So erfährt man im Prunkstück des Museums, dem liebevoll restaurierten großen Sektionssaal aus den 1920er-Jahren, einiges über die Geschichte der Seuchen bis hin zu Corona. Neben vielen Dokumenten, Schaubildern und -stücken sind auch popkulturelle Augenzwinkereien dabei. So eines der berühmten "#TeamDrosten"-T-Shirts und eine Actionfigur von Dr. Fauci.



Klug und in ihren Untertönen ähnlich unaufdringlich gestaltet sind auch die Räume der Dauerausstellung. Der Raum zur Geschichte des Arztberufs ist ganz selbstverständlich übertitelt mit "Ärztin werden", darin sind für sich sprechende Schautafeln ausgehängt, die das Ungleichgewicht der Geschlechter bei Studium, Promotion und Habilitation zeigen. Eine feine Klinge oder besser Skalpell, das hier geführt wird. Die Sammlung technischer Geräte ist ebenfalls beachtlich: Neben einer fast frivol elegant anmutenden Eisernen Lunge (ein Schwestermodell steht in der Sammlung Virchow in Berlin) gibt es eine Vielzahl von Mikroskopen, Röntgenröhren, Durchleuchtungapparate und Labortechnik zu sehen. Selbst ein berüchtigter Durchleuchter ist zu sehen, wie er früher in manchen Schuhgeschäften stand und mit dem man sich "mal eben" unbefangen die Füße röntgen lassen konnte. Natürlich "bedenkenlos", wie es mit moderner Technik du Jour eben so ist.



Anders als in den medizinischen Sammlungen etwa in Wien oder Berlin sind hier in der ehemaligen Hamburger Pathologie keine Nasspräparate pathologischer Eigentümlichkeiten ausgestellt. Ein Herzstück aber sind die Moulagen, also Nachbildungen aus Wachs, wie sie bis heute in der medizinischen Ausbildung benutzt werden. Wer als Schüler:in noch die Lehrfilme der FWU ("Institut für Film und Bild in Wissenschaft und Unterricht") erinnert, kann hier noch einmal die verschiedenen Stadien der Syphilis ("Kehrt zurück!") studieren und mit den unwillkürlich kribbelnden Flecken auf dem Handrücken vergleichen.



Lobend erwähnt sei auch der Umgang mit den dunklen Seiten von Medizin und Forschung insbesondere während der NS-Zeit. Die Biographien von Psychiatern wie etwa Hans Bürger-Prinz (hier ist auch ein Porträt von Conrad Felixmüller zu sehen, das die Stadt 1967(!) als Ehrung in Auftrag gab), die ungehindert über wertes und unwertes Leben entschieden und nach 1945 am UKE schnell wieder als Koryphäen ihrer Wissenschaft etabliert waren, wird ebenso Raum gegeben wie zu erschütternden Schaustücken gewordenen Karteikästen mit den Patientendaten aus Lagern und Psychiatrien.



Mit Einzelstücken unter anderem angenehm beiläufig in die Sammlung integriert und dazu in zwei weiteren Räumen präsentiert ist derzeit (bis zum 7.11.) die Ausstellung "Venusmaschine" von Kirsten Krüger. Anatomische, surreal verfremdete Objekte und Skulpturen und traumhafte Installationen wie das "Ameisenzimmer" finden hier einen idealen Ort und lohnen alleine schon den Besuch.



Ein schönes Geschenk, bei dem man viel lernt, sich ergreifen und begeistern lasen kann. Und Postkarten kann man vor Ort auch erwerben!

>>> Webseite des Medizinhistorischen Museums, Hamburg


 


Freitag, 6. Oktober 2023


Tag der Glühbirne


Um 1882: Eine Birne verspricht glühende Landschaften

Ich muss meine langwierigen Betrachtungen über Brüssel im Zwielicht kurz unterbrechen, um ein Licht auf eine Erfindung des 19. Jahrhunderts zu werfen, die die Welt buchstäblich erhellte: die Glühbirne. Am 1. Oktober wurde weltweit der Change-a-Lightbulb-Tag gefeiert, ein Birnchen-wechsel-dich-Tag, der zum Energiesparen aufrufen soll (Es ist natürlich auch ein Tag für allerlei schmale Witze à la "Wieviele Blogger braucht man, um eine Glühbirne zu wechseln?" usw.).


Werbeprospekt für die elektrische Glühbirne um 1882

Erfunden hat das kleine Zimmerwärmewerk bekanntlich nicht etwa Thomas Alva Edison um 1880, der hat es wie so viele seiner "Erfindungen" nur "vorgefunden" und "verbessert". Oder sagen wir so: Zum Patentamt hatte er kurze Wege. Um 1875 bis 1880 herum kamen jedenfalls mehrere Erfinder (auch in Deutschland) zeitgleich auf die Idee einer Glühlampe mit hochohmigen Glühdraht, was einige technische Vorteile bot. Einige Entwürfe und Prototypen wurden auch auf der Pariser Weltausstellung 1878 vorgestellt - zusammen mit dem Eiffelturm, weshalb dieser auch bis heute elektrisch beleuchtet ist. Seither hieß es - in besser gestellten Häusern zunächst - "Es werde Licht", und es ward Licht.


Arbeiterin in einer Glühbirnen-Reparaturwerkstatt, die im viktorianischen London bald wie Pilze aus dem Boden schossen

Wie immer bei neuen Moden gab es im viktorianischen Zeitalter einen allzu menschlichen Hang zum Exzess. Manche wollten sich nicht länger "gaslichten" lassen und hängten sich nun die Zimmer übertrieben voll mit Glühbirnen, brachten Licht ins Dunkle und Dämmrige, vertrieben erst die Schatten, dann die Triebe, fingen massenhaft an zu lesen und in der Folge an, Ideen zu entwickeln.


Neben der für ihre anzüglichen Posen beliebten "French Card" wurden auch Karten aus dem Genre "das elektrische Schlafzimmer" eifrig gehandelt

Die Glühbirne wurde zum Accessoire de Jour, fand mit ihrem wendelförmigen Gedrahte Einzug in Mode und Schmuckornamentik, (die halbe Welt des späteren Art deco basierte nicht von ungefähr auf dem gezielten Einsatz von Licht) und galt ganz allgemein als Statussymbol. "Darf ich ihnen zu Hause meine Glühbirne zeigen?" lockte so manches unterbelichtete Fräulein und hin und wieder auch den ein oder anderen naiv gedimmten Herren in wenn auch nur schummrig beleuchtete Bedrängnis (anders als heute üblich hatte man natürlich keine 100-W-Strahler als Nachttischlampe). Kurz: die Welt war elektrifiziert und zeigte dies gerne.


1905 kam es zur ersten bekannten Wahl einer "Miss Glühbirne"

Lange vor der Neuen Sachlichkeit fand die Glühbirne bereits als strahlend in Szene gesetztes Objekt der Begierde Einzug in die Welt der Fotografie. Nach dem augenzwinkernden Motto "Mit Magnesiumblitzen auf Glühbirnen!" wurden waren Lichterfluten inszeniert, und in den nur im Halbdunkeln gehandelten freizügigen Pin-up-Katalogen dieser Zeit fanden sich leicht bekleidete Damen in freizügigen Posen im Schein von glimmenden Kohlefaserdrähten.


Um 1900 bereits wurden zur Weihnachtszeit Karten mit festlicher Glühbirnendekoration an die Liebsten verschickt


 


Dienstag, 19. September 2023


Brüsseler Spitzen #2


Foto-Hotspot Brüssel: Stets steht jemand im Weg

Noch immer fehlt mir für das Konzept "Brüssel" die Zange, um die Stadt als solche zu ergreifen. Mein schon auf der Hinreise überpackter, schwerer Koffer - auf der Etappe bereits um das eine oder andere erleichtert - kehrte vollgestopft mit Widersprüchlichkeiten heim. Eine Stadt, in der liebliche Jugendstilmuster an Brut-Beton stehen, moderner Finanzprunk neben altem Barockprunk, mittelalterliches Kopfstein sich vor Bankentürmen pflastert, lässt sich schwer in Schubladen pressen. Mein Hotel (Notiz an mich: beim nächsten Mal bitte wieder Ferienwohnung) lag zentrumsnah zwischen dem Kunstberg mit seinen Museen und der berühmten Kathedrale St. Michael und St. Gudula (der Schutzheiligen der Stadt), was für einen ersten Besuch nicht ganz dumm war. Die wichtigsten Sehenswürdigkeiten hat man so als lahmender Fußgänger schnell beguckt - oder wenigstens erhascht. Denn in Brüssel gilt: Was auch immer man fotografieren will, es steht jemand im Weg (s. Abb. 1).


Brüssel: Männeken-Pis, Schutzpatron der Blasenschwachen, mit zeitgenössischer hl. Monstranz und moderatem Strahl

Insbesondere die international bekannten Nationaldenkmäler, wie der berühmte freimütig pinkelnde Knabe, der wirklich sehr klein ist, sind von Touristen umlagert. An Stöcken halten sie ihre Smartphone-Monstranz in die Höhe, um ein Foto vom kleinen Männchen machen zu können, Reiseführer erzählen derweil schlüpfrige Anekdoten vor kichernden Menschen, die ebenfalls schnell noch ein Selfie beim Wassersport machen wollen. An vielen anderen Plätzen dasselbe Spiel. Anders als das Männeken-Pis, läuft Brüssel einfach über. Man kommt darüber aber auch ins Gespräch. Eigentlich in dem Alter, in dem man für junge Frauen unsichtbar geworden ist, wurde ich immer wieder unerwartet von freudestrahlenden Asiatinnen angesprochen (wohl, weil ich fünf Kameras umhängen hatte), die mir mit "Can you take my picture, pleeeese?" ihr Smartphone in die Hand drückten und wie für einen Reisekalender vor Säulen oder pittoresken Wänden posierten. Allein deshalb ist es wichtig, mit der Entwicklung Schritt zu halten und moderne Kulturtechniken wie die Handyfotografie zu erlernen!


Wuppertal: Männeken-Pis, abstrakte Version "Heimwerker", mit ordentlich Druck

Insgesamt lohnt sich ein Vergleich mit der Zwischenetappe Wuppertal, eine Stadt die man auch Klein-Brüssel nennt. Ähnlich zerrissen und widerspenstig, retro-modern (was der einen Stadt ihr Atomium, ist der anderen die Schwebebahn) und oft auch rott - und beide mit imposanten Bankentürmen (gut, in Wuppertal ist es nur die Sparkasse). Auf das Wuppertaler Männeken-Pis, nicht weniger imposant, dafür abstrakter in der Ausführung, hat man bei für die Region typipschen Starkregen immerhin freie Sicht für eindrucksvolle Fotos. Touristen, die hier ein Selfie machen wollen, gilt es allerdgins erst noch anzulocken. (Liebe Stadt Wuppertal, hier braucht es eine interessante Backstory. Sprecht mich an!)


Brüssel: Bücherschrank mit Gravitas an Prachtbau

In Brüssel aber überall Kunst, Literatur und Musik: Es gibt die Fondation Brel, die sich dem Leben und Werk Jacques Brels widmet, ein ausnahmsweise nicht von Victor Horta, dem stadtbildprägenden Jugendstil-Architekten, entworfenes Musikinstrumentenmuseum, profan-sakrale Bücherschränke und Antiquariate, eine Klanginstallation mit Vogelstimmen in einem wirklich sehr kleinen Park, erstaunlich wenig Graffiti in der Innenstadt (aber auch erstaunlich viele Überwachungskameras), eine Theater- und Musikbühne im Königlichen Park, sogar surreale eScooter-Fahrten sind dabei.


Nahe des Magritte-Museums gibt es eScooter für geisterhafte Touristen im Schulze & Schultze-Look

Ansonsten sind auch hier die Dinger wie überall eine Pest, stehen oder liegen kreuz und quer auf Gehwegen - und haben noch nicht einmal ein Nummernschild. Eine EU-Verordnung wäre hier angebracht oder eine konsequente Verfolung durch das weltberühmte Detektivduo aus den Tim & Struppi-Comics.


Rockstars international - allerdings nur männlich - an einem Fachgeschäft für Schallplatten

Man spricht übrigens viel Englisch in der Stadt, was teilweise auch zu einem verwirrenden Gemisch aus Französisch, Flämisch, Englisch und sogar Deutsch führen kann. Als Hamburger fragt man sich irgendwann, warum so viele Straßenbahnen nach Stade fahren, Homophonie ist halt ein trügerischer Freund. Selbst Weltliteraten haben hier viel aufgeschnappt. So kam Thomas Mann bei seinem Besuch in Brüssel einst eine wunderbare Idee für den Titel eines Familienromans.


Der Ursprung der Buddenbrooks wird heute oft fälschlich in Lübeck vermutet

Mit solch verwirrenden Eindrücken schleppt man sich abends dann müde zu Bett, wo sich bald im Traum allerlei floral gewundene Jugendstilmuster um einen ranken, Wasserfontänen aus kleinen Brunnen schießen (unbedingt schnell noch mal aufstehen!), asiatische Frauen mit Smartphones winken und Melonen-tragende Herren auf eScooter um einen herumkreisen.


 


Dienstag, 5. September 2023


Brüsseler Spitzen #1

In einem meiner Reiseführer steht sinngemäß, "Die Liebe zu Brüssel muss man sich erarbeiten", und als Experte für komplizierte Herzensangelegenheiten fühlte ich mich da natürlich sofort herausgefordert. Ein vielversprechendes Ziel zur Herzensbildung und hoffentlich auch Unterhaltung, dachte ich. Möglicherweise auch ein Experiment in Unterwerfung, denn diese Stadt hat mich ja noch nicht gesehen und präsentiert sich vielleicht ganz zauberhaft.


Brüssel: wo Altes und Neues als ständige Bruchkante aufeinandertreffen

Über Etappen gestreut (acht Stunden im Zug möchte ich nun wirklich nicht mehr sitzen, zumal dabei andere Menschen um einen herum sind) war die eigentliche Reise überraschend erträglich. Wagenreihung mal so, mal so, Verspätungen aber minimal, und selbst eine zum Wochenende aufgedrehte heitere Frauengruppe im Ruhebereich auf der ersten Etappe verabschiedete sich bierflaschenklimpernd recht bald ins Bordbistro. Dazwischen nur Landschaft, sobald man den flachen Norden erstmal verlassen hat. Fachwerk, Schiefer, Restgrau, gemischt mit Schloten und Industrieanlagen, also herzerwärmend, dann wird es hügeliger und talsperrenreicher - und zack, ist man in der Stadt mit dem Schwebebahnelefanten.


Brüssel: Selbst der Himmel ist hier wie mit einem Schnitt mit dem Küchenmesser zur Collage geteilt

Von Wuppertal aus sind es nach Brüssel gerade einmal zweieinhalb oder drei Stunden. Köln, Aachen, Lüttich, fettich. Ab der Grenze piepsen Mobiltelefone wegen Informationen zu Roaming, das Licht ändert sich merklich (belgische Sonne andere Sonne), die Architektur noch merklicher. Kurz der Gedanke, gleich bis Ostende ("Oostende") durchzufahren, Brügge, Knokke, knorke, aber das vielleicht beim nächsten Mal. Dann ohne Herbstjacke im Koffer, aber mit Badehose! (Koffer viel zu überladen, ich reise wie Lady Gaga.) Nun aber, am Nordbahnhof natürlich nicht auf der Schmuckseite, sondern zwischen Baustellen, olfaktorischen Problemzonen und flüsternden Genussmitteldienstleistern raus, dann hoppelhoppel mit dem Rollkoffer durch die Gluthitze zum Hotel, Navigation ist schließlich erste Pfadfinderpflicht. Unterschätzt habe ich das hügelige Gelände, denn Brüssel ist wie Rom oder Wuppertal oder andere Weltstädte auf solchen gebaut. Ich sag' es gleich: Wer nicht Wuppertaler oder Römer ist, lacht hier nicht. Es gibt ein oben und ein unten, ein alt und ein neu, eine Sprache und eine andere Sprache, und entlang dieser Brüche hangelt man sich durch.


Follow the Money: Finanz- und Verwaltungstürme stehen wuchtig im Weg

Man bekommt aber gleich einen Eindruck von Dimensionen, dem Sound einer Stadt und seiner Lautstärke, den Ideen, was "Gehwege" sein sollen (immerhin bewegen wir uns hier im Zentrum der EU und ihrer Verordnungen) und den opaken Wegen der Geldströme. "Follow the money", heißt es und auch ein Grund, weshalb ich und meine Maggie-Thatcher-Handtasche überhaupt dort waren, aber auch hier eine gewisse Sperrigkeit: Aus Gründen konnte ich im Hotel nicht mit meiner Kreditkarte zahlen, es wurden also Wege und Ideen entwickelt, um die Summe bar (es lacht!) und NFC-Funkwellentechnologie (modern!) zusammenzukratzen, während mir im Nacken eine Mischung aus Angst- und Hitzeschweiß, Debit und Kredit genannt, und allgemeinem Unwillen zusammenlief.


Dämmern in der Stadt floral gewundener Träume: Fenster zu Höfen

Endlich aber Rast. Gedankensammeln, Fernsehprogramme kontrollieren, Fensterblicke riskieren und kleinen Gang durch die Gemeinde planen.