Donnerstag, 1. September 2022


Der letzte Tag des Sommers



September. Jetzt kommt die Zeit, wo jeder Tag der letzte Tag des Sommers ist. Zeit, die leichten Herbstuniformen herauszusuchen nach einer Ewigkeit endloser Hitze, stechender Sonne und aller anderen Unannehmlichkeiten, die unsere schlimmste Jahreszeit, der Sommer also, hervor- und mit sich bringt.

Warpaint knicken noch mal die Hüften, drehen die Kontraste raus, gehen ein letztes Mal ins kühlere Wasser, singen Jajaja und Lalala (aber mit spitz gefeilten Nägeln). Bus und Bahn sind nun befreit von schwitzigen Neun-Euro-Horden, die Boote drehen kürzere Runden, Wespen holen aus zur letzten Agonie.

Irgendwo ist Krieg, irgendwo sind leere Regale. Irgendwo erntet man ab, irgendwo hängen schwer die Früchte. Irgendwo baut man schnell ein Haus und wartet lange auf die Dächer.

Auf der Straße auch Ernte. Kleine Funde. Irgendwo wurden Bilderahmen zum Selberpflücken rausgestellt. Mittagspause im Innenhof des kleinen Klinikums. Aus den Türen stürmen Pflegerinnen und auch Pfleger, reißen sich mit einer Hand die Maske ab und zünden mit der anderen eine Zichte. Schnelle Züge in Sonne, Knicken in der Hüfte, bis eine nach der anderen zurück muß auf Station.


 


Sonntag, 28. August 2022


Köpfe streichen



Hab' jetzt wo 12 Euro Schulden und mußte folglich einen neuen Job annehmen. Zum Glück hat sich mein grafisches Können herumgesprochen, und so bekam ich spontan einen bei der Polizei als Phantomzeichner. Jetzt können Ermittler von Haus zu Haus ziehen und fragen "Kennen Sie diesen Mann?" In der oberen Reihe, der dritte von links kommt mir persönlich ja ein wenig verdächtig vor. Aber wir wollen niemanden vorverurteilen, es gilt die Unschuldsvermutung, und das bloße Ansehen einer Person, also das Aussehen, besagt noch gar nichts. (Außerdem weiß ich als Polizeizeichner meist selbst gar nicht genau, was den Beschuldigten zur Last gelegt wird. Datenschutz.)

Jedensfalls ist man sehr zufrieden mit mir und meiner Arbeit, und das hört man ja zur Abwechslung auch ganz gern. Gerade von Experten. Ich arbeite nämlich nicht nur verblüffend präzise, sondern auch schnell, was man bei der Detailverliebtheit der Bilder nicht glauben möchte. Wie anders war das doch, als ich mein Können als Porträtist in der Fußgängerzone anbot mit meiner Staffelei gleich neben den Streetbuskern und menschlichen Statuen aus Silberfarbe. Oft rief ein vorwitziges Kind oder ein sturer Bock älterer Herr "Der kann ja gar nicht malen!" oder "Das sieht aber gar nicht ähnlich aus", dabei kosteten meine Bilder nur zwei Euro. Dafür kann man am Hauptbahnhof gerade mal aufs Klo. Das muß man ja auch in Relation sehen. Aber die Leute nörgeln gern, statt an kleinen Dingen Freude zu haben. Selten ist nur irgendwas gut genug.


 


Donnerstag, 25. August 2022


Heiß wie Marmelade



Es war natürlich eine dumme Entscheidung, keine Entscheidung zu treffen und der Dinge harren zu wollen unterm eintopfblubberheißem Blechdach des kleinen Leuchtturms am Rande der Stadt mit ihren kochplattenheißen Steinwüsten und Betonbauten. Die Entscheiduntg hätte lauten müssen: Kleinkoffer packen, eine Woche Hiddensee oder Vorpolarkreis oder irgendwo nach Landschaftshausen. Will aber nicht Nichturlaubsjammern, andere müssen womöglich an der Teermaschine arbeiten, während ich hier nur die kleine Wetterstation beobachten, Sportboote vor Gegenverkehr warnen und Möwen zählen muss.



Immerhin halte ich mich auch nach mehreren gefühlten Monaten gefühlter Durchscnittstemperatur von 35plus ganz wacker, andere sind da schon länger durchgedreht und verkloppen die Leute mit toten Möwen und das noch nackt. Hamburg in einer Inszenierung des berühmten Liedes "They're coming to take you away, haha". einziger Trost am dampfenden Werktisch The Lake Radio, das nicht nur ein kalmierendes Foto von einem ruhigen See zeigt, sondern vor allem vormittags ein hübsch kuratiertes Programm von Diffusklängen, musikalischen Schrägstellungen und Lautmalereien spielt. (Leider am Wochenende immer öfter in Richtung gefällige Weltmusik driftend.)

Rausgehen unter Qualen. Dann aber nachbarschaftlich. Bernd Begemann spielt in der Nähe, man sitzt auf Gras, viele Blogger haben sich ebenfalls rausgetraut, man grüßt hierhin und dorthin. Herr Begemann schleudert seinen großen Hit gleich zu Anfang raus, was gewitzt ist, dann sind die Leute schon mal beruhigt und außerdem hat er ja noch viele mehr. Große Schiffe gehen schlafen, und ich dann irgendwann auch. Weil ich kühler bin als alle anderen, kondensiert auf mir der ganze Schweiß.


 


Sonntag, 14. August 2022


Schwitzige Nachtgesichte



Habe jetzt eine Wildtierkamera vor dem Haus installiert, dort wo eine langgezogene Straße entlangführt. Nachts dringen von dort immer wieder merkwürdige Geräusche herein, ein Summen und dumpfes Tappen. Lange rührte sich nichts, jetzt aber löste der Bewegungssensor aus und aktivierte die Nachtsichtfunktion. Erstaunlich - auf der Straße hockt ein großes Tier. Ein sechsbeiniger Hund? Ein Nachtmahr? Ein xenomorphes Gebilde? Gibt es derart große Insekten oder hat sich etwa einer der verrückten Wissenschaftler hier auf der Forschungsinsel durch ein fehlgeleitetes Experiment in eine Fliege verwandelt?

Wo Quecksilber durch Flüsse treibt und alles abtötet, wo Atomkraftwerke von Raketen beschossen werden, darf man sich über Veränderungen in der Natur nicht wundern. Ladies and Gentemen, es folgen die Mutantenjahre. Man geht dann nachts nicht mehr raus, um Waschbären zu vertreiben, sondern tausendfüssige Riesenasseln und fußballgroße Schaben. Nachtspaziergänge bis zum Elbufer, am Wasserfilterwerk vorbei nur noch mit Riesenkescher und Elektroschockgerät. Oder mit dem fliegenartigen Hund an der Leine, der mit dumpfen Tapsen über die Straße geht.

Bei der Hitze kleben neuerdings Geckos an meinen Fensterscheiben zum Wasser hin. Exotische Pflanzen ranken sich am Haus hinauf, ein Leben wie in einer vergessenen Orangerie, verwehte Musik, eine müde Katze, und dann gar nichts mehr, nur noch in eine neue Aggregatform schmelzen.

>>> Geräusch des Tages: The Cramps, Human Fly


 


Montag, 8. August 2022


Traummaschine III



Werkstatttagebuch III/22, Sek. 37. Für die in vivo-Testphase habe ich nun seit einigen Tagen die Traummaschine neben meinem Bett platziert. Auch wenn meine Nächte meistens schlaf- und traumlos verlaufen, gibt es hie und da REM-Phasen mit besonders gesteigerter Traumaktivität, die ich mit meiner Maschine aufzeichnen konnte. Es sind meistens etwas undeutliche, erinnerungslose Bilder wie Tränen im Regen, die am Morgen für die Menschheit verloren sind. Für immer.

Nun aber bin ich in der Lage, diese Daten aufzuzeichnen, von Fehlspuren (Magengrimmen, äußere Einflüsse, Zufallsindikatoren, elektromagnetische Spitzen durch vorbeifahrende Autos) zu bereinigen und auszuwerten. Zum Ende bleiben endlose Ströme kodierter Zeichenkolonnen, für die man früher Dutzende Linguisten und Code-Knacker hätte beschäftigen müssen, um sie zu dechiffrieren.



Heute gibt es dafür zum Glück Maschinen mit künstlicher Intelligenz. Diese wurden gefüttert und antrainiert mit Milliarden von Träumen anderer Menschen, um einen Korpus von dem zu schaffen, was man gemeinhin unter "Traum" versteht. Die KI hat leider kein Bewusstsein, folglich auch kein Un-bewusstsein kann daher auch nachts nicht abschalten und vor sich hinträumen. (Und auch keine "elektrische Schäfchen" zählen, wie es im Volksmund immer heißt.)



Die KI (hier handelt es sich um eine Maschine namens "Midjourney") kann die von mir und meiner Traummaschine aufgezeichneten Daten aber interpretieren und analog Trilliarden von anderen Träumen nachmalen. Sich ausmalen. Übersetzen. Wie man es auch immer bezeichnen möchte. Jetzt allerdings habe ich Angst bekommen. Den offensichtlich ist die Maschine in der Lage, in meinen Kopf zu schauen. Und zwar schmerzhafter und genauer, als ich es selbst zu tun vermag. Ich fürchte, die Maschine wohnt dort bereits. Und so wie ein Staubsaugerroboter exakte Karten von den von ihm befahrenen Wohnungen und vor allem vom dort gefundenen Müll aufzeichnet und an eine andere Maschine funkt, so hat die Traummaschine auch meine Hirnwindungen und den Müll darin, die sogenannte Plaque des Denkens, kartografiert. Da sitzen offenbar deformierte Menschen auf derangierten Stühlen, tanzen viktorianische Roboter vor Grosz-teskem Publikum, singen Affenmädchen verzerrt aus trüben Gläsern.



Es ist also tatsächlich sinnvoll, dass man meist schläft, wenn man träumt. Dass man Traumgebilde und Phantasmagorien sich selbst im Schlaf überlässt, im kindlichen Vertrauen darauf, dass der Spuk am nächsten Morgen vorbei ist und alles in alltagskodierte Formen und Gebärden zurückgefasst ist. Damit man den gemeinsanen Traum weiterträumen kann. Und die Schläuche und Sensoren und die trüben Gläser, in denen wir alle stecken, nicht bemerkt.


 


Mittwoch, 3. August 2022


Werkstatttagebuch / Traummaschine II



Wichtig ist ja immer auch der Feldversuch. Der Moment, wenn das Kunstwerk wie eine Raupe aus dem Kokon der Werkstatt schlüpft und die Umwelt erkundet. In diesem Fall war dies im Rahmen einer kulturintervenistischen Aktion ein Stück Brachland inmitten der Großstadt, Oase zwar nicht für Insekten (gab kaum welche), aber Gedanken. Wir sehen hier in einer ortsspezifischen Installation den Prototypen (daher noch nicht ausbalanciert, was natürlich die ersten Traumergebnisse verfälschen wird) mit seiner Trichterfalle, in der die von den Röhren gebündelten Erinnerungsstrahlen (ein zuvor genutztes Brachland eigent sich daher gut für erste Experimente) gesammelt werden. Eine Art Field recording für Spiritisten.

Sollten die Ergebnisse befriedigend ausfallen (ich habe mich noch nicht getraut, den Fangkasten zu öffnen, hielt aber bereits ein Stethoskop daran), werde ich die Installation auf einem Friedhof erneut aufstellen. Im Ergebnis sollten die dort viel stärker vorhandenen Erinnerungsstrahlen ("memory beams") zu einer größeren Ausbeute führen. Dann folgt auch der Test der Wiedergabefähigkeit, bei der ein exakt ausgependelter, an einem menschlichen Haar befestigter spitzer Bleistift über einem Blatt Papier schwingen wird und Bilder skizziert, die als "Träume der Toten" zu betrachten sind.

In Traummaschine III werden wiederum kleine Lautsprecher in die Röhren platziert werden, die aus dem Gerät heraus (ex ovo) den Gesang ausgestorbener Vogelarten in das von Nutzen und Gebrauch befreite Brachland abstrahlen werden. Eine Reflektion über Vergänglichkeit im Zeitalter technischer Reproduzierbarkeit am Ende des Erdzeitalters, das wir kannten.


 


Sonntag, 31. Juli 2022


Traummaschine II



Nachdem ich neulich noch einmal Ken Russells Gothic mit einigem Vergnügen gesehen habe, eine Arbeit über die Erschaffung eines Schöpfers aus dem Geist traum- und albtraumhafter Abgründe, dachte ich weiter nach über das Leben als Créateur, wie man am Genfer See, also dort, wo der Film spielt, vielleicht sagt, und beschloss, eine weitere Traummaschine zu bauen.

Diese hier erinnert ein wenig an die Intonarumori -Krachmaschinen der Futuristen, wie man sie hier betrachten kann. Und in der Tat ist diese Maschine gedacht, um Gedanken und Träume mit Klängen zu beinflussen. Das Funktionsprinzip von Twitter brachte mich auf die Idee, vielstimmige Geräusche in einen Echoraum abzustrahlen, eine ortsspezifische Klanginstallation, deren Energie einen Gedanken denken lassen soll.



Wenn man die Regler auf Elf stellt, geht auch ordentlich was ab. Es bildet sich eine Art brodelnde Pizzaoberhaut auf der Hirnrinde, ein Fusionsgenerator der Klänge, den ich wie ein Tesla der Moderne nur mühsam im Zaum halten kann. Ist aber alles sicher, und von TÜV Süd geprüft. Denke ich jedenfalls, aber das kann sich, je nach in meine Maschine induzierten Klang kurvenartig verändern - mal Sinus, mal Rechteck, mal Sägezahn, ihr kennt das Muster. Rhythmisch pumpende Lavageysire, Assoziationsbilder, Rorschach-Muster, aus denen sich die Zukunft lesen lässt. Die sieht, wie man weiß, für uns alle auch nicht gut aus.