Donnerstag, 23. März 2023
Zwischen der Stille und ihrem Lärm lese ich. Einem Hinweis von Cegeste folgend, stieß ich auf Georges Rodenbachs Das tote Brügge, einem symbolistischen Roman von 1892, der in zwei Übersetzungen auch in Deutschland verlegt ist. Ich kannte den gar nicht, Huysmans reicht, war ich lange überzeugt, aber man kann ja auch mal über die dunklen Schatten in den Gassen einer alten belgischen Stadt springen. Rodenbach, ein Freund des Dichters Émile Verhaeren, falls jemand fragt, war eigentlich Anwalt, arbeitete zuletzt als Journalist und hinterließ ein alles in allem überschaubares Werk (vier Romane, einige Gedichtbände).
Versehen mit den Fotos der französischen Ausgabe, was damals natürlich sehr modern war, ist der schmale Band Das tote Brügge rasch bewältigt, und die Geschichte schadlos knapp zusammengefasst: Junger, sensibler Mann wird Witwer, trauert endlos und drei Tage um seine verstorbene Liebe, hegt ein paar kultische Erinnerungsstücke (Locke vom Haar und usw.) und grübelt in seinem Haus in Brügge vor sich hin. Bis er eines Tages, der Zufall und seine Streiche, eine Tänzerin vom Theater trifft, die seiner toten Liebsten bis aufs Haar gleicht! Es entspinnt sich eine heimliche, neurotisch-makabre Affaire d'Amour, bei der nicht klar ist, wer hier wen benutzt, und am Ende ist alles gar nicht mal so schön. Auch weil die Tänzerin das Spiel durchschaut und immer mehr aus dieser Folie, die über sie gelegt wurde, heraustritt. Verdammte Unterschiede.
Das ist doch die Geschichte von Vertigo, dachte ich. der Hitchcock-Film, in dem Kim Novak den schwindelgeplagten James Stewart beschwindelt als freilich angeheuertes Double seiner verstorbenen Liebsten usw. usf. Hitchcock verfilmte dabei einen Roman von Pierre Boileau und Thomas Narcejac (D'entre les morts) , aber man darf vermuten, dass den beiden Franzosen das kanonisierte Buch von Rodenbach bekannt war.
Wie bei den meisten guten Gedanken, darf man davon ausgehen, dass er bereits gedacht worden ist, und ja, Elisabeth Bronfen hat in ihrem Standardwerk Nur über ihre Leiche: Tod, Weiblichkeit und Ästhetik darüber geschrieben. Jetzt erinnert ihr euch auch.
Stilistisch herrscht viel Silberklang und kristallene Farben, es wird gesehnt und getadelt (die Liebesaffäre ist im erzkatholischen Brügge ein Skandal), die Innenschau des Helden lässt alle anderen Figuren etwas hölzern zurück. Aber sie sind eh nur Darsteller auf der Bühne seines Moraltheaters. Ich empfehle es zu Ostern, als Beiwerk weiterer liturgischer Lesungen.
>>> Buchbesprechung im DLF