Samstag, 19. Dezember 2020
Wenn ich einen Werkstoff nicht leiden kann, also nachgerade verachte sogar, ist es Kunststoff. Entweder sind Gebilde daraus schmiegsam, aber voller Weichmacher, oder aber hart und spröde wie das Herz eines alten Bloggers. Ist Kunststoff transparent, wird er bald opak und schlierig wie die Gemüseschublade eines traurigen Kühlschranks. Hat er eine Farbe, gerät die bald außer Mode. Nein, Kunststoff ist der Feind, Plastik sogar ein Mörder, vor allem, wenn es in mikroskopisch kleine Stückchen zerschreddert ist und in Fisch- und Vogelmägen wandert.
Bakelit muß man aus dieser Gruppe ausnehmen. Ein meist wohlgeformter, nun klassisch gewordener thermoplastischer Werkstoff von angenehmen Gewicht und für Lichtschalter, Radiogeräte und Lampen eine gute Wahl. Gleiches gilt für Melamin, das hier im Haus neben Glasschalen den profanen Tuppertopf ersetzt. Überhaupt Ersatz: Seit Jahren predige ich: Plastik raus, Ersatz rein.
So hatte ich die letzten Tage auch keine Finger frei zum Bloggen, sondern war damit beschäftigt, einen wahren Haßgegenstand aus dem Haushalt zu entsorgen. Das sogenannte Jewel Case. Die Älteren erinnern sich. Bei DVDs mache ich das schon länger, wenn sie nicht in hübsche Boxen oder angenehme Packs aus Pappe stecken. Weg mit den klumperten Kunststoffboxen, rein mit den Scheiben in dafür vorgesehene Papierumschläge und alles in Sammelschuber. Spart Platz und Schrott. Jetzt waren die CDs dran, die sich bislang über mehrere große Schubladen verteilten. So wie andere in dieser Jahreszeit mit einer Schale auf den Knien abends vor dem Fernseher sitzen und Nüsse knacken, saß ich nun da und knackte Jewel-Cases. Die heißen edel so, sind aber meist im Laufe der Zeit verkratzt, angelaufen und blind geworden wie billiges Talmi.
Also weg damit! Krack, Knack, Krick gingen die Geräusche, denn all diese schäbigen Hüllen und Booklets aus den Hüllen rauszubrechen, rauszuzerren, rauszuschauben, rauszuknacken, rauszuprokeln ist ein zerstörerisches, wenngleich befriedigendes Geschäft. Nach einigen Hundert erbrochener CDs sollte man meinen, ich wüßte, wie das schadenfrei geht. Aber nein. Es gibt verblüffend viele Arten dieser Plastiksarkophage, und jeder öffnet sich anders. Manche kann man wie Zauberwürfel auf vertrackte Art verdrehen und verschieben, dann geben sie ihre Cover preis. Andere kann man eigentlich nur zerstampfen. Vier-, fünfhundert CDs später kann ich nun mit meinen Fingern Hummer knacken oder Austern oder was es sonst bei euch so regelmäßig gibt. Vielleicht könnte ich mich als Freiberufler unter dem Claim Ich knack das! selbständig machen.
Man lernt bei dieser Arbeit viel. Über Vielfältigkeit zum Beispiel. Ich bin sicher, daß es irgendwo ein Forum für CD-Case-Nerds gibt, die die Terminologie der einzelnen Formen dieser Plastiknervdinger (die einem ja früher bereits im CD-Gebrauchtkaufladen beim kontrollierenden Öffnen aus der Hand und quer durch den Laden geflogen sind) drauf haben. Da gibt es garantiert eine Art Linné'sches System für Einzel-CDs, Doppel-CDs, Dreifach-CDs, welche, die wie ein Triptychon geöffnet werden, welche, in denen die Scheiben wie Seiten in einem Buch angeordnet sind usw. Eine faszinierende Welt, wenn man darüber nachdenkt. Das alles haben sich Menschen einmal aus.ge.dacht!
Ganz sicher gibt es Menschen, die nun sagen, CDs, das sei aber soooo Neunziger, und sich dabei sehr klug und modern vorkommen. Ja, mag sein. Aber schaut lieber nach, ob euch euer Musikstreamdienstleister nicht gerade alle Bibliotheken auf dem Telefon gelöscht hat. Dann reden wir weiter. Hast du was im Haus, dann hast du in der Not. Meine Meinung. Musik zum Beispiel. Nun stammt ein Gutteil meiner CDs aber tatsächlich aus den Neunzigern, und da kann man sich schon auch wundern. Künstler, von denen man nie weder etwas gehört hat, Künstler, die es aus bereits damals unerklärlichen Gründen in meine Sammlung geschafft haben, Künstler, deren CDs überhaupt noch eingeschweißt waren. Man sortiert auf dieser Zeitreise auch streng noch mal aus, dann heißt es, auf Wiedersehen Pizzicato Five oder auch Tschüß Melvins, ihr seid super, aber einfach nicht meine Musik. Also Mukke.
Schade, daß ich in den Neunzigern keine eigene Band gehabt habe. Das wäre eine Emo-Goth-Band namens Gloomy Fühlings gewesen und hätte CDs in schön gestalteten Papp-Digipacks herausgebracht. Buchbinderische Arbeiten, Augenweiden, dazu astreine Musik, die die Zeit überdauert hätte. Aber wann hätte ich das alles auch noch machen sollen?
Ungefähr die Hälfte an Platz ist dazugewonnen, denn ich habe im Laufe der Tage ca. acht Tonnen Plastikschrott in den Container vorm Haus geworfen, immer mal so ein bis zehn Tüten, damit die Nachbarn ihre Käsefrischhaltefolien auch noch entsorgen konnten. Befreiend! Frau Kondo hätte gelacht! Jetzt kann ich guten Gewissens neue CDs kaufen, um die Lücken zu füllen.