Montag, 24. Juni 2019
In meinem Sachbuch Männer, die noch selbst dabei waren: Erinnerungen an eine vor-virtuelle Zeit wird man dereinst nachlesen können, wie man in einem Wald stehen, ein selbstgeschmiertes Butterbrot essen und dem Gesang der Vögel lauschen konnte. Bis dahin werden die meisten aber ausgestorben sein.
Nicht aber dem Gedächtnis verloren. Während ihr euch Musik von einem Girl namens Alexa vorsingen laßt, höre ich ja Musik bekanntlich gern von Wachszylindern. Man muß schließlich nicht jeden neuen Quatsch mitmachen. Unter den in vielerlei Hinsicht faszinierenden Arbeiten der Radio- und Klangkünstlerin Sally Ann McIntyre, die hauptsächlich zwischen ihrer Heimat Neuseeland und der schönen Stadt Melbourne pendelt, befindet sich ein noch viel faszinierenderes Klangkunstprojekt:
Vom in Neuseeland einst weit verbreitete, 1907 aber ausgestorbenen Huia gibt es leider keine Tonaufzeichnung. Es gab einen Ureinwohner, der den Gesang des Vogels nachahmen konnte, um ihn zu jagen. Daraus entstand eine Notation, die nun wiederum von einem Pianisten zusammen mit field recordings aus der ehemals natürlichen Umgebung des Vogels auf Wachszylinder aufgenommen wurde. Sally Ann McIntyre stellt das Projekt hier vor.
Da es nun mit jeder Wiedergabe auch einen Abrieb des wie ein junger Vogel empfindlichen Zylinders gibt, wird auch dieser nach und nach verblassen und eines Tages ausgestorben sein. Denn Geschichte wiederholt sich.
Das Wiederholungsprinzip macht sich McIntyre auch in Projekten zunutze, in denen sie die Soundrecordings ausgestorbener Vögel in ehemals bekannten Vogelrevieren abspielt und neu aufnimmt, um das Klangerlebnis zurück in die Natur zu bringen und wiederum für uns erfahrbar zu machen.
Hier überträgt sie eine live gespielte Geige per Radio, um deren Töne zusammen mit der ersten kommerziellen (78 RPM) Schallplattenaufnahme eines Vogels in Gefangenschaft (die Nachtigall des Herrn Bremen) aufzunehmen.
Ich finde das gerade aufregend interessant, zumal auch dies wiederum mit Rekreation und Nacherfinden zu tun hat, mit Imitiation und frommer Lüge. Aber auch mit Technikgeschichte, denn so wie vielerorts Taxidermiekurse aufblühen, um die Kunst der Naturerhaltung zu üben, gibt McIntyre Kurse im Radiobasteln. Da wird an einem Nachmittag ein kleiner FM-Sender zusammengelötet (Empfänger sind für solche Projekte zu kompliziert), um mit wenigen Milliwatt (und entgegen gängiger Lizenzbestimmungen, vermute ich) Radio in die nahe Umgebung abzustrahlen. Eine schwindende, bald obsolete Kulturtechnik.
Leider wird Frau McIntyre sträflich selten auf Festivals eingeladen, immerhin hat sie mal bei den Radiorevolten eine Sendung machen können.
>>> Radio Cegeste, das Blog von Sally Ann McIntyre