Samstag, 13. Oktober 2012


Ausfliehen


Der Horizont steht auch schon schief

Die Gerüchte gab es ja schon lange. Die Schwarzgrünen wollten breits die Kleingärtner enteignen, mochten sich dann aber doch nicht recht mit der ureigenen Klientel anlegen. Dann kam die Finanzkrise, und die Sparkasse, die angeblich das Grundstück erworben hatte, wurde es nicht los. Stand dann da so rum, begrünt, bebaumt, benistet von vielen, ach was: unzähligen Wasservögeln. Zum Beispiel vom weltdööfsten Bläßhuhnpaar, das Jahr um Jahr und unverdrossen sein Nest in der Kurve am Rande der Fahrrinne baute. Immer, wenn etwas Größeres oder Schnelleres durch den Kanal schipperte, wühlte ein kleiner Tsunami durch deren Haus, das manchmal hielt, manchmal absoff. Dann großes Gepiepe, nervöses Getue, empörtes Herumgeschwimme. Und was macht der Bläßhuhnblödmann dann? Baut das Nest unbeirrt an derselben Stelle wieder auf.

Manche Jahre ging es auch gut, aber nun wurde innerhalb einer Woche das ganze Gelände abgeholzt, freigesägt, abgeschabt und kleingeschreddert. Wo früher Enten nervten, rumpeln jetzt Motoren. Schön, daß die schwerreiche Stadt Hamburg im Frühjahr noch den Uferbereich sorgsam beschnitten und gelichtet hat, Büsche raus, ein paar alte Bäume gefällt. Hat der Investor jetzt nicht ganz so viel zu tun.

Ich also am Wochenende meine Rentnermütze aufgesetzt, Hosenträger gespannt, das Rad bestiegen und gleich mal rüber zur Großbaustelle gefahren. Dort neben dem Bauzaun, der die Geröllstrecke nun vor Campingfreunden und Anglern schützt, eine Eichhörnchenfamilie mit klopfenden Herzen angetroffen. Ihre Bäume seien weg, keuchen sie empört. Und zwar alle! Tja, sage ich. Und meine Aussicht erst. In Hamburg fehlen Wohnungen, sicher. Gut, daß die gebaut werden. ABER DOCH BITTE NICHT IN MEINEM HINTERHOF! Entschlossen überreichen sie mir ihre NIMBY-Visitenkarten für den Fall, daß wir eine Wutbürgerinitiative gründen wollen. Ich studiere die Angaben am Bauzaun, betrachte die Entwurfskizzen, die im Stile de Chiricos eine naturfreundliche, wassernahe und menschenleere Eigentumsidylle zeichnen. Irgendwo auf dem Bild ist ein Rad geparkt.

Im Prospekt lese ich, daß 30 Millionen Euro dort verbaut werden. In einem wenig bekannten, aber zentral gelegenen Stadtteil (das hätte auch gern so bleiben können) entstünde "Wohnen am Wasser", in direktem Umfeld kultureller Keimzellen wie dem hermetischen Café (Poesielesung jeden Abend, fünfvoracht). 100 ETW sind hier geplant, dazu 30 Mietwohnungen (wohl nach Norden raus). Überschlägt man kurz den Durchschnittspreis, wird auch ohne meinen Nachbarn ins Portemonnaie geschaut zu haben klar, daß dieses Projekt sich nicht an Menschen richtet, die hier bereits im Viertel leben.

Regen setzt ein. Mit dem Tempo eines Leonard-Cohen-Songs radel ich durch Brache und Gewerbegebiet bis hinunter zum Deich. Dort, malerisch zwischen Müllverbrennung und Kraftwerk ausgelegt, die letzten Atmungsorte. Zwischen den Schauern neuer Regen, es braut sich was zusammen, aufgescheucht durch starken Wind, der von Westen kommt. Viel Kraft habe ich nicht.

Mit Puddingbeinen dann zurück zum Haus, mühsam die Stufen zum Leuchtturm hinauf. Bis oben sieht man mir nichts an. Dann aber Päuschen auf der eigenen Fußmatte. Erst einmal setzen, befinde ich. Türe im Sitzen öffnen. Dann krieche auf allen Vieren hinein. Darf man auch keinem erzählen. Aber ihr haltet ja dicht.