Montag, 17. Mai 2010
In dieser Kirche wurde ich getauft. Ich habe, so wurde mir später berichtet, geweint, aber nicht sehr, und dann wurde die Taufkerze angezündet und ergreifende Lieder gesungen. Meinte Mutter schwört, selbiges übrigens bis heute und notfalls vor Gericht, ich hätte in meinem Taufkleid eine engelsgleiche Figur gemacht. Gleich nach der Taufe fand in der Kirche eine Hochzeit statt.
Hier ging ich zur Grundschule. Einmal erhielt ich eine Ohrfeige und einmal mußte ich in der Ecke stehen. Beide Male, so erinnere ich mich dunkel, wegen sogenannter unaufgeforderter Beiträge zum Unterricht, vulgo "Schwätzen". Man wird nicht von heute auf morgen Klassenclown. Die Ohrfeige nahm ich verdutzt zur Kenntnis, war mir doch ein verwandtschaftliches Verhältnis zu meiner Lehrerin nicht bekannt. Das Eckenstehen (hinter einem Tafelflügel) fand ich in seiner Exponiertheit unangenehm, es hat mir auf Jahre weitere Bühnenauftritte versaut. Ich glaube, ich vermißte die Eselmütze, die man traditionellerweise bei solchen Gelegenheiten tragen muß. Stil war mir damals bereits wichtig. Sonst war aber alles gut, die Lehrerin wurde bald in Pension geschickt, wir bekamen eine sehr junge, sehr blonde schwedische Aushilfslehrerin, bei der alle immer die Hausarbeiten dabeihatten und die mir an meinen neunten Geburtstag in ihrem herrlichen Akzent sagte: "So alt wird kein Schwein." Da begriff ich das Konzept der geliehenen Zeit und wollte sie vom Fleck weg heiraten. Sie aber kehrte bald in ihre Heimat zurück.
Hier wohnte ich, seit ich sieben war. Damals, das muß ich gestehen, befand sich unten leider kein Bestatter, sondern ein Kolonialwarenladen, der von zwei Schwestern geführt wurde. Alten Damen, wir mir schien, dabei waren sie gerade einmal fünfzig. Bei Regen, und in der Stadt regnete es immer, lief die Schieferverkleidung noch grauer an, und das alte knarzende Haus schien mir eine abweisende, düstere Festung, in der man nicht zu laut sein durfte. Wir waren die armen Mieter unter dem Dach. Dort, auf dem Wäschespeicher, gab es ein geheimes Zimmer, in das man nur selten einmal schauen durfte. Die Schwelle durfte ich, in Beisein meiner Mutter und einer der alten Damen nur einmal übertreten. Es war gefüllt mit Schätzen, Spielzeug und Hausrat aus den Vorkriegsjahren. Und der noch geheimeren Schatulle des Verlobten der einen Dame, der "im Krieg geblieben" war, ehe es zu einer Hochzeit kommen konnte.
In dieser Straße habe ich das Radfahren erlernt. Es fuhren nur selten Autos und man konnte höchstens in eine Hecke fallen. Wenn man sich links hielt, eine Tendenz, die ich seither verinnerlicht habe. Vorne hatte die Straße kein Ende, und genau da wollte ich hin. Ich war mir sicher, dort so etwas wie einen geheimnisvollen weißen Schleier gesehen zu haben.
In einem dieser Häuser wohnte ein Mädchen, das mit mir zur Schule ging und in das ich, heute kann ich es zugeben, ein wenig verknallt war. Da war ich acht oder neun. Ich muß mich wohl ein wenig auffällig verhalten haben, dabei bin ich kaum öfter als vier Mal am Tag an ihrem Haus vorbeigelaufen. Eines Tages sprach sie mich im Beisein ihrer Freundin an, und ich leugnete mannhaft alles. Wir haben nie geheiratet, obwohl ich damals für eine kurze Zeit darüber nachdachte.
Hier gibt es seit nunmehr 60 Jahren das beste Eis der Stadt. Als ich noch klein war, torkelte ich an einem heißen Sommerabend glückstrunken die Stufen hinunter aufs Trottoir, ein triefendes Erdbeereis in der kleinen schwitzigen Hand, voll zittternder Vorfreude erfüllt, als drei ältere Jungs (einer in einer blauen zerrissenen Jeans-Jacke mit einer Haarbürste mit Metallgriff vorne links in der Brusttasche, falls sich die Ermittlungsbehörden endlich einmal dafür interessieren möchten!) mir im Vorbeigehen das Eis aus der Hand schlugen. Während ich empört und verdutzt dem schmelzenden rosafarbenen Klumpen auf dem heißen Asphalt mit noch heißeren Tränen in den Augen zusah, beschloß ich, mich fortan kämpferisch gegen die Ungerechtigkeit in der Welt einzusetzen. Ab einem gewissen Alter, also später, konnte man sich in der Eisdiele auch mit fröhlichen Mädchen treffen, die niemals allein kamen, lustige Lieder kannten, nie übers Heiraten sprachen, einem aber manchmal erlaubten, von ihren Löffeln zu lecken.
Claim to fame. Hier hat Ann-Kathrin Kramer gespielt. Ich auch. Frau Kramer wohnt immer noch in Wuppertal. Ich nicht. Wir haben uns nie kennengelernt. Ich hegte ihr gegenüber niemals Hochzeitspläne.