Montag, 22. Oktober 2007
Mutter" rufe ich, "was ist das für ein Wein?" Stirnrunzelnd betrachte ich das Etikett. Die Mutter hat sich vergriffen, einen Merlot gekauft, den Aufdruck "lieblich" vielleicht aber auf sich bezogen oder einfach auch nur übersehen. Doch erinnern wir uns daran, was in unserer Familie immer galt: einfach immer weiter machen. Und frei nach Nestroy ("Einen Jux will er sich machen") beschließen wir tapfer: Dieser Wein wird getrunken.
Zwei Gläser später sind wir bereits leicht beschwipst und schauen gemeinsam mit einem unterschiedlichen Grad an Begeisterung "Astro-TV". Ich parodiere die hellsichtigen Gestalten, die für gute Provision arglosen Menschen Glückskekssprüche verkaufen. Auch meine Mutter findet bald Gefallen an dem TV-Trash. Als eine Frau anruft, um zu erfahren, ob's noch was wird, mit der Liebe und ob das Schicksal doch noch mal gnädig sein wird, rufen wir fast aus einem Mund: "Vergiß es!" Offenbar lebt der Sender auch vom voyeuristischen Katastrophentourismus.
Am nächsten Tag berichte ich der Mutter, daß nun viele Menschen über Dinge wie "Apfelkuchen" und "Mutterkreuz"* diskutieren, aber entweder das eine oder das andere gar nicht kennen. Meine Mutter, alles andere als eine gute Apfelkuchenbäckerin, kramt in der Schachtel mit den drei Familienandenken und präsentiert achtlos das silberne Symbol des Anstoßes. Verliehen an meine Großmutter sel., die sechs Kinder geboren hatte.
Angeblich, so lese ich, hatte man mit dem Ding einen Anspruch auf einen Sitzplatz in öffentlichen Verkehrsmitteln, doch ich bezweifle, ob meine Großmutter damals im tiefen Ostpreußen wirklich etwas davon hatte, blieb sie doch die meisten Tage daheim, um die Kinder zu versorgen und statt Apfelkuchen zu backen, lieber ein paar Hühner zu schlachten.
1945 blieben die Hühner und der schmale Kartoffelacker zurück, als "der Russe" kam. Der Großvater war schon längst "gefallen", irgendwo im Osten, so wie mein anderer Großvater auch, wie überhaupt die meisten Männer dieser Familie, bis auf einen später angeheirateten Onkel, der im Westen stationiert war und die lieblichen französischen Weinkeller bewachte, wie er später gern erzählte. Meine Großmutter aber packte wie eine Maria F. der Unterschicht Kind, Sack, Kegel und Mutterkreuz und flüchtete zur Küste, damals im Winter 1945.
In Gotenhafen versuchte die klamme Bagage über die Ostsee zu kommen, auf einem der großen und kleinen Schiffe, die von dort die schwierige Passage durch Eis, Minen und sowjetische U-Bootsperren wagten. Zu Tausenden hockte man dort, wartend und hoffend, Sand in einem Getriebe, das nun völlig aus den Fugen geraten war. Die Großmutter und die sechs Kinder schliefen in einem ehemaligen Kino, dessen Sitze verfeuert worden waren. Jeden Morgen packte man die Leichen auf Leiterwagen und füllte die freiwerdenden Plätze mit weiteren Flüchtlingen. Ein anderer Onkel, der bei der Marine war, besorgte über einen wendungsreichen Dienstweg Papiere, eines dieser trickreichen Manöver, deren Irrwitz 60 Jahre später auch keiner mehr versteht. Nachbarn, die es selbst nicht anders gehalten hätten, empörten sich, aber meine Großmutter, die resolute, packte ihre sechs Kinder und die paar Koffer, die sie noch hatten, denn auf der Fahrt mit der Eisenbahn, in - welch' böse Ironie - Güterwaggons, die man mit Stroh ausgelegt hatte, war eine Türe aufgesprungen, Koffer und Kinder oder Koffer oder Kinder fielen hinaus, die Großmutter hinterher, rennen, retten, flüchten, in den blauen Augen meiner damals fünfjährigen Mutter ein großes Abenteuer, von dem nichts blieb, außer dem halbnackten Leben, Papieren, Fotos und dem Mutterkreuz, packte also die Habseligkeiten zusammen und zwängte die Familie auf eines dieser umgebauten Minensuchboote. Die zwei älteren Brüder, die - sich einen Jux machen wollend - die Abfahrt verpassten, ruderten mit einem Boot dem auslaufenden Schiff hinterher, wurden aufgefischt und - ein weiteres Abenteuer - für eine deftige Standpauke vor den Kapitän zitiert.
Aber in diesen Tagen überlebte nicht unbedingt der, der erster war. In der schmalen Fahrrinne, die durchs Eis gebrochen war, tauchten, meine Mutter schwört es Stein und Bein, bald Holz- und Trümmerteile auf. Zwei Tage zuvor war hier die Wilhelm Gustloff auf dem Weg nach Kiel einem sowjetischen U-Boot ins Fadenkreuz gelaufen. Zehntausend Menschen waren wohl an Bord, in diesem Januar 1945, und nachdem der KdF-Kreuzer versunken war, wurden 1252 aus der eisigen See geborgen. "Das war es" sollen die Worte des Kapitäns gewesen sein, als erst der eine, dann der zweite und schließlich der dritte der vier abgefeuerten Torpedos unter der Wasserlinie einschlug. Es gab kein Weitermachen.
Das Minensuchboot mit meiner Mutter an Bord hingegen kam zwei Tage später durch, ohne Zwischenfall, mitsamt der Großmutter und dem Mutterkreuz. Für den sowjetischen U-Boot-Kommandanten Marinesko gab es nichts, nur die Erinnerung vielleicht an sein Fadenkreuz. Erst 1990 verlieh ihm Mütterchen Rußland postum einen Orden.
Am Ende trafen sie sich doch wieder, in ihrer Biografie jedenfalls, denn 1963 wurde ihr Schicksalsjahr. Meine ostpreußische Großmutter, die sechs Kinder geboren hatte, aber ihm entwischte, starb im Frühjahr jenes Jahres an Krebs. Marinesko, der elftausend auf den Grund der Ostsee geschickt hatte, folgte ihr ein halbes Jahr später.
Das Kreuz, sinnlos wie der Orden an Marinesko, ist nun in meinem Besitz. Eine Tante hatte sich unlängst beschwert, wie irgendeine Schwiegertochter aus der weitläufigen Familie, kaum, daß deren Mutter tot war, "alles weggeworfen hätte". Meine Mutter hingegen blieb stoisch. "So ist das halt." Vielleicht fielen ihr die Trümmer der Gustloff ein. Ich pflichtete ihr bei und bekräftigte, nach einem kurzen Blick auf ihr im Memphis-Stil gemustertes Geschirr, es nicht anders halten zu wollen, jedenfalls soweit ich ohne Astrologen-TV in die Zukunft blicken könne. "Ich würde mir auch nur ein paar Andenken raussuchen."
"Und", meinte sie. "Willst du sie jetzt schon haben?" Und wir lachten beide und nahmen einen letztes Glas von diesem widerlich lieblichen Merlot. Ich nahm dann das Mutterkreuz und ein paar andere Dinge. Muß ja immer weitergehen.
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* In der Wikipedia und einigen anderen Quellen wird behauptet, das Kreuz hätte die Aufschrift "Das Kind adelt die Mutter" getragen. Diese Inschrift habe ich nicht gefunden. Auch die Fotos in der Wikipedia selbst liefern dafür keinen Beweis. Vielleicht fand sich ein solcher Aufdruck auf der separaten Verleihungsurkunde - oder aber es hat hier eine Quelle von der anderen abgeschrieben. Die Seite des Deutschen Historischen Museums erwähnt diese Inschrift nicht.