Revue passieren

Zu den schönsten Flohmarktfunden zähle ich alte Scrap-Books und Fotoalben. Hin und wieder kaufe ich ein paar Sachen, so wie der Held aus One Hour Photo, und denke mir die fehlenden Geschichten aus.

Vor fünfzehn Jahren ging ich spät nachts noch durchs regnerische Tal auf dem Weg zu meiner Freundin und wurde durch einen wahren Schatz vom Wege abgebracht. Es war Sperrmülltag, und jemand hatte säckeweise alte Fotos rausgestellt. Vieles war naß geworden und zerstört, vieles andere war einfach viel zu viel, aber eine kleine Tüte voll habe ich doch gerettet. Seit Jahren liegen sie in einer Blechdose verstaut: Eine Familiensaga vom 1. Weltkrieg bis in die 50er Jahre, als einer der Söhne in Amerika heiratete.

Die Familie, kleine Fabrikanten, so vermute ich, tritt noch heute ab und an aus den Schatten des Vergessens heraus. In Fotos, die beide Weltkriege zeigen, Interieurs, Ausflüge und die großen und kleinen Festlichkeiten. Leider sind die meisten Bilder undatiert (Kleiner Hinweis: immer schön Fotos hinten beschriften, falls ich die mal auf dem Flohmarkt finde. Vielen Dank.), was die historische Einordnung erschwert, die Fantasie aber um so mehr anregt. Sozial- und kunstgeschichtlich eine hübsche Aufgabe, mehr noch aber ein Steinbruch unendlicher Assoziationsketten.

Demnächst stelle ich das ein oder andere näher vor.

Wunderkammer | 14:36h, von kid37 | Kondolieren | Link

 
ana - Freitag, 21. April 2006, 17:59
Auch wenn Sie die Geschichten zu ihren gefundenen Bildern erfinden, möchte ich das als legitime und mögliche Form der Geschichtsschreibung betrachten.

Ich selber habe mir mal am Flohmarkt eine Sammlung mit Briefen gefallener Studenten des 1. Weltkrieges gekauft. Während des Lesens ist mir diese Zeit viel näher gekommen als beim Studieren von Geschichtsbüchern. Bei meinem Flohmarktfund ist es nur ein bißchen schade, dass die Texte nicht als zufällige Fundstücke gebündelt sind, sondern 1942, also im 2.Weltkrieg, in Buchform herausgegeben wurden.

Auch ihre Fundstücke zeigen nur das, was die Familie für Wert hielt zu photograhieren. Aber dieser Umstand ist nicht nur bedauerlich, sondern gleichzeitig ein Bestandteil der Geschichte.

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kid37 - Freitag, 21. April 2006, 19:34
Die Rekonstruktion dieser Leben - fremd, aus fremden Zeiten - ist wie ein Puzzle ohne Vorlage. Man überlegt, wie die Verwandtschaftsverhältnisse wohl waren, wer der Onkel, wer der Vater (das weiß man ja nie so genau), wem das Haus gehörte und wem die Zither, die der alte Mann da spielt. Vieles offenbart sich gerade im Unspektakulären, in den einfachen Dingen und schlichten Bildern. Und dann dieser Ernst! auf alten Fotos.

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zonebattler - Sonntag, 30. April 2006, 11:06
Der Ernst...
...hatte ganz früher wohl vor allem technische Gründe: Unempfindliches Filmmaterial und lichtschwache Optiken bedingten lange Belichtungszeiten, bei denen nur scharf abgebildet wurde, was stillhielt und nicht herumzappelte. Das wurde abzubildenden Subjekten natürlich eingeschärft, denn jede »verschossene« Aufnahme war teuer. Darum bemühten sich die lebenden Motive um luftangehaltene Unbewegtheit, was aus heutiger Sicht steif oder eben ernst wirkt.

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maichance - Freitag, 21. April 2006, 18:25
ich liebe es aber hau mir immer wieder selber auf die finger wenn ich zuviel alte alben die nichts mit meinem leben gemein haben kaufen will....

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kid37 - Freitag, 21. April 2006, 19:35
Ich stecke die Hände immer tief in die Taschen. Jetzt geht die Flohmarktsaison schließlich wieder richtig los. Schlimm.

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connie - Freitag, 21. April 2006, 19:41
Ja, dann schauen Sie doch mal bei
http://www.bildsperre.de vorbei!

da is sowas, Bilder sind vom Ramschladen, Ideen entsprangen meiner gequälten Seele ;=)

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kid37 - Freitag, 21. April 2006, 19:47
Ah, hübsche Idee, schau ich nachher mal näher rein.

Found ist übrigens ein amüsantes Webmagazin mit lauter gefundenen Bildern, Zetteln, Dingen.

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kid37 - Freitag, 21. April 2006, 20:15
Phantome
Aktuell übrigens auch die Ausstellung von Nathalie Huth bei Feinkunst Krüger, die eine ähnliche Idee mit bildnerischen Mitteln verfolgt.

Und Miss Wurzeltod hatte heute eine ähnliche Eingebung und verweist aufs Vintage Photoblog.

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jazz - Samstag, 22. April 2006, 19:56
Traurig, das diese Zeugnis so achtlos verworfen werden. Und doch schön, dass manche davon offensichtlich wieder in gute Hände geraten.

Ob man in 50 Jahren anfängt, den Spermüll nach CDs mit alten Digipics zu durchforsten? Irgendwie jammerschade, dass manche Dinge wohl keine Zukunft mehr haben.

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waschsalon - Samstag, 22. April 2006, 20:31
auch wenn ich diese bilder wegen ihrer stimmung mag und nichts dagegen habe, in anderer leute leben zu blicken (ich lese ja auch blogs) - dennoch werde ich immer wieder melancholisch, wenn leute sowas einfach verkaufen.
in den keller sperren, ja. auf dem dachboden vergessen, ok. aber verkaufen?! das ist als würde man seine großmutter verhökern.

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zonebattler - Sonntag, 30. April 2006, 11:01
Die Leute, die sowas verkaufen...
...sind ja meistens nicht die Nachfahren, sondern Haushalts-Auflöser und professionelle »Entsorger« , die zu den papiergewordenen Erinnerungen auch keinen eigenen Bezug haben...

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bartleby - Sonntag, 23. April 2006, 15:39
Biss zum DoppelWupper
Eine Dose mit alten, fremden Fotografien. Bedingt erst ein Zerreißen des Bewusstseinstroms & lässt dann die Assoziationsketten in andrer Richtung contigue werden. Die Dose gehörte Freud. Die Assoziationsketten C. G. Jung. Der Bewusstseinsstrom Kant. Das Zerreißen Derrida. Die Fotografien dem Fremden Camus. Die Richtung einer synaptischen Synopsis. Das Blech der Trommel ....

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reyamm - Montag, 24. April 2006, 01:39
Darauf bin ich echt gespannt als Hobbyfotograf....

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modeste - Montag, 24. April 2006, 14:33
Ein bißchen traurig, nicht? Entweder gibt's niemanden mehr, der zu den Leuten auf den Bildern "Oma" oder "Tante Mienchen" sagt, oder sie sind den Enkeln, Nichten etc. egal. Ich finde auch ab und zu Alben, und jedesmal greift mir eine kleine Angst ans Herz, was wohl aus meinen Bildern wird.

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kid37 - Montag, 24. April 2006, 14:50
Ich mache mir da keine Illusionen. Enkellos werden irgendwann die Abdecker Wohnungsauflöser kommen und alles in den großen Container schmeißen. Ein bißchen was wird auf dem Flohmarkt in der Kiste mit "Alles für 50 Cents" landen. Streuen in alle Winde. Damit die Saat erneut aufgeht. Vielleicht.

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wuestenfloh - Montag, 24. April 2006, 14:48
Wir älteren Herren beschäftigen uns im "Virtuellen Klassentreffen" schon zu Lebzeiten mit den alten Schwarzweiß-Fotos...

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kid37 - Montag, 24. April 2006, 14:54
Ich sehe schon. Das Internet verbindet. Schön gestaltete Seite, übrigens. Möglicherweise wird es in 50 Jahren ein Hobby sein, verwaiste Webseiten zu sammeln ;-)

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wuestenfloh - Montag, 24. April 2006, 15:46
Die letzte Bemerkung hat mich ganz nachdenklich gemacht. Vielleicht sollte ich mir nahe Stehende schon mal mit den Zugangsdaten zu meinem Hoster vertraut machen, auf dass die Seite weiter lebe.

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