O Haupt voll Blut und Wunden

In the end you will submit,
It's got to hurt a little bit.

(New Order, "Subculture")


Die Karfreitagsprozession in Wuppertal - im Volksmund auch Regenschirmprozession genannt aufgrund der oft schwierigen Wetterlage im Tal - hat seit Jahren eine feste Tradition. Während sich anfangs nur ein paar hundert Leutchen, Mitglieder der italienischen Gemeinde zumeist, in der Stadt versammelten, um den Leidensweg Christi nachzustellen, ist das ganze mittlerweile zu einer durchorganisierten Großverstaltung gewachsen. Die Darsteller tragen drahtlose Mikrofone, die Kostüme sind aufwendig und das (Er-)Barmer Blasorchester fügt den inbrünstig gemurmelten italienischen Gebeten von der Maria voll der Gnade die nötige bergische Schwermut hinzu.

Man muß sich das mal vorstellen: da vermissen italienische Gastarbeiter ihre katholischen Traditionen aus Süditalien und beginnen, diese in einer Stadt, die das Feiern nur im Verborgenen kennt, aufleben zu lassen. 5000 Menschen folgten dieses Jahr dem feierlichen Zug auf die Wuppertaler Höhen. Bei weitem nicht nur Italiener, und so kam es nicht von ungefähr, daß in der zweisprachigen Predigt der Zusammenhalt und die Toleranz der Kulturen und das gute Zusammenleben von Italienern und Deutschen hervorgehoben wurde. Multikulti mag tot sein, in solchen Momenten funktioniert es einfach. Und man muß nicht an den allmächtigen Schöpfergott glauben, um universelle Lebensweisheiten über Opferbereitschaft, Liebe, Verrat, Tapferkeit, Erniedrigung und Hingabe für sich abzuleiten. Wer einmal eine größere Darbietung volksfrömmiger Hingabe erlebt hat - Ste Anne de Palud ist ein weiteres Beispiel - muß schon hart im Herzen und hochmütig im Geiste sein, will man sich den tieferen Botschaften verschließen.



Eingestimmt wurde ich, als ich eine Exfreundin aus seligeren Wuppertaler Tagen traf, die ihre Haare nach wie vor leuchtsignalfarben unübersehbar trug. Vor ein paar Jahren entdeckte sie meine grauen Strähnen und meinte in der ihr eigenen Herzlichkeit, "alt bist du geworden". Nun dachte ich ebenfalls, ein wenig uncharmant vielleicht und daher nur leise, "alt ist sie geworden", so wie man es an seinen Kindern merkt, wie die eigene Zeit vergeht.
Wer keine Kinder hat, wie ich, liest den eigenen Verfall nicht am Flug der Vögel ab, sondern am Werden und Vergehen der ihm gut bekannten Menschen. Aber was rede ich, sie sah natürlich, anders als ich, sehr gut aus und ihr aktueller Freund vielleicht sogar eine Spur besser noch. Was immer irgendwie blöd ist, erwartet man von seinen Exfreundinnen doch die Höflichkeit, daß sie sich - wenn sie schon nicht ins Kloster gehen - wenigstens verschlechtern mögen und beispielsweise an eben dem langweiligen Typen hängenbleiben, den man früher in der Schule immer verlacht hat.

Dergestalt also an die Tugend der Demut erinnert, war ich innerlich bereit für das Spektakel, das nun folgen sollte.



Der Herr Jesus wurde wie in den Vorjahren von einem feschen jungen Italiener gespielt, dem mit seinem unschuldigen Gesicht, der blutenden Stirne und dem zerzausten Haar sicher einige jungfräuliche Herzen vom Wegesrand aus zuflogen. Seine Mutter heißt übrigens Maria, was seiner Glaubwürdigkeit in fast unerschütterliche Höhen überführt.

Im Deweerth'schen Garten beginnt die Prozession traditionsgemäß mit dem Gebet von Gethsemane und der berüchtigten Szene, wo der verschlagene Judas dem lieben Herrn Jesus den verräterischen Kuß gibt. O, falsche Freundlichkeit, du herzlose Natter! Man kennt diese Bussi-bussi-Gesellschaft.

Auf dem Laurentiusplatz, gegenüber dem Kaffee Engel, wusch bald Stadthalter Pontius Pilatus seine Hände in Unschuld. Das Volk skandierte und schickte Jesus endgültig in den Tod.



Auf dem Rathausmarkt, am Neptunbrunnen, residieren für gewöhnlich Randständige und konsumieren ihr Bier. Man meint ja, daß die sich heute schwer gewundert haben dürften, als plötzlich ein paar tausend Menschen aus der Fußgängerzone auftauchten und sich um sie herumgruppierten, darunter eine Gruppe Römer in voller Montur, die sozusagen einen der ihren drangsalierten. Doch nicht so im bibelfesten Wuppertal.
Denn nachdem die Prozession weitergezogen war, meinte einer der Berber zum Kollegen: "Ich war ja zwei Jahre im Kloster, woll."
"Ach watt."
"Doch, war so. Un' ich kenn die Geschichten nämlich alle."



Nicht ganz so die Lage auf der Hardt. Die Wuppertaler Parkanlage wird jedes Jahr zum Golgatha, dem Schädelberg. Nachdem ich die Anhöhe mühsam erklommen hatte, bot sich mir ein tolles Panorama auf eine Kavalkade bußfertig erhobener Regenschirme, denn pünktlich zum traurigen Höhepunkt der schmerzensreichen Leidensgeschichte, hatte sich der Wuppertaler Himmel bedrohlich verfinstert.
Genervte, aber in Bibelkunde versierte Väter hievten ihren neugierigen Nachwuchs auf die Schultern und mußten den nur diffus vorinformierten Blagen geduldig die Sachlage erklären.

"Ist der Jesus jetzt tot?"
"Noch nicht. Gleich."
"Ist jetzt gleich? Ist er jetzt tot?
"Dauert noch ein bißchen."
"Wenn der Jesus tot ist, können wir dann gehen?"



In diesem Augenblick wurde mir klar, daß es es diese einfühlsamen Kommentare vor 2000 Jahren sicherlich bereits auch schon gab. Als schaulustige Väter ihren Kindern die Geschehnisse auf dem Richtplatz erklären mußten. Höchstwahrscheinlich, so möchte ich vermuten, fiel dabei aber nicht der Satz "Willst du noch ein Stück Schokolade, Anna-Maria?"

Die melancholischen Posaunen erklangen und die Menge fand mit schwankenden Stimmen in das Lied von Paul Gerhardt. Immer wieder griff ich in meine Tasche voller Dornen, und ich schwöre, am Ende zeigte meine Handfläche ein ganz klein wenig Blut.

Die Kreuzigung war übrigens sehr schön.

Flanieren | 01:07h, von kid37 | Kondolieren | Link

 
kid37 - Mittwoch, 19. April 2006, 01:08


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frau klugscheisser - Mittwoch, 19. April 2006, 11:49
Sozusagen kollektives Sterben. Herrlich, Herr Kid. Ich hingegen habe mir zu Ostern das Splattermovie "the last temptation of Christ" im Breitbildformat reingezogen. So mit Chips auf der Couch ist das Sterben erträglich, das Blut keine Gefahr für die eigene Kleidung und die Sicht viel besser als beim lLiveevent. Und keine Ex-Freunde weit und breit, die man ob ihrer uncharmanten Aussagen kreuzigen möchte.

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kid37 - Mittwoch, 19. April 2006, 12:59
Mel Gibson gibt die härtere Packung, wenn es denn gewünscht ist. Ich persönlich neige ja zur Selbstgeisselung, falls das hier bislang verborgen geblieben sein sollte. Und ich möchte betonen, daß diese Exfreundin eine ausnehmend attraktive... nun ja, Sie verstehen.

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goetzeclan - Mittwoch, 19. April 2006, 11:15
Mist,
schon wieder verpasst. Ich versuche mir das schon seit gut zehn Jahren anzusehen.

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kid37 - Mittwoch, 19. April 2006, 11:38
Mich beeindruckt, daß das alles von den Menschen selber kommt, "von unten", wie man so sagt. Unermüdlich.

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goetzeclan - Mittwoch, 19. April 2006, 11:45
Motivation ist eben alles :-)

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luise - Mittwoch, 19. April 2006, 12:28
"Wenn der Jesus tot ist, können wir dann gehen?"

Sie mögen verzeihen, aber wäre ich Ohrenzeuge dieser Frage geworden, ich hätte vermutlich kreischend gelacht und den Unmut der gesamten Menge auf mich gezogen.

Ich stehe der Kirche eher ablehnend gegenüber, muss ihr aber zugestehen, dass sie vereint, gerade auch in ihren alten Traditionen, und das ohne Ball und Tor und Flaschenbier, und dieses mildert meine Ablehnung dann doch ab.

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kid37 - Mittwoch, 19. April 2006, 12:51
Ein jeder trage des anderen Kreuz
Ich lese da ein wenig Ablehnung gegen das anstehende Fest der Welt unter Freunden des Ballsports heraus. Hm.

Ernsthaft: Schöpfergott hin, Osterwunder her. Feste, kollektive Rituale geben tatsächlich "Halt". Und Gelegenheit zum Nachdenken über Demut und Mut dem Schicksal gegenüber. Heute soll ja alles bespöttelt und ironisiert werden. Das ist ein Kreuz.

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nicodemus - Mittwoch, 19. April 2006, 13:16
…pietätvoll erzählt mit einem Seitenhieb auf die, die sich nicht unbedingt damit identifizieren.

Lange ist es noch nicht her als Mitmenschlichkeit, Demut, Liebe und das Eintreten für den „Nächsten“ als humane Werte bezeichnet wurden und als solche galten. Diese „humanen Werte“ schlossen niemanden aus, nicht Christen, nicht Muslime, nicht Schwarze oder Gelbe, nicht Afrika und nicht China. In den letzten Jahren werden diese Tugenden, das leben von „Menschlichkeit“ plötzlich Christlich genannt und schließen damit alle Nichtchristen aus. Wir alle wissen welche Gefahren von einem religiös besetzten Begriff ausgehen.

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mark793 - Mittwoch, 19. April 2006, 13:39
Vor Inhumanität und Schlimmerem
sind auch atheistisch inspirierte Gesellschaftsmodelle nicht gefeit gewesen, wie wir wissen. Insofern garantiert die Absenz von Religion auch noch keine humanitas. So gesehen spricht aus meiner Sicht nichts dagegen, die Kirche im Dorf zu lassen.

Den Ansatz von Hans Küng etwa, im Dialog mit anderen Religionen sowas wie einen Welt-Ethos herauszuarbeiten, finde ich ziemlich richtungsweisend. Und einen grundlegenden Widerspruch zu dem Begriff, den ich mir von Humanität mache, vermag ich darin auch nicht zu erkennen. Vielleicht entwickelt sich da dereinst eine Basis, auf der sowohl religiöse als auch nichtreligiöse Menschen tragfähige Schnittmengen zwischen ihren jeweiligen Wertesystemen finden können.

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luise - Mittwoch, 19. April 2006, 13:51
Ach nein, nicht direkt Ablehnung, eher Erheiterung. Ich erinnere mich an weinende Männer, als die entscheidenden Gegentore fielen und "unsere Jungs" raus waren - weinende Männer, stelle sich das mal jemand vor. :)

Humane Werte sind und bleiben humane Werte. Wer dies auf Christen beschränkt, verfolgt keine humanen Werte. Übrigens steht in der Bibel "Liebe deinen Nächsten".

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nicodemus - Mittwoch, 19. April 2006, 14:25
Ich verbeuge mich tief zu der Idee eines Ethos der ALLE betrifft. Ich billige nur nicht den „If / Then“ Modus. Bist du Christ, bist du gut – bist du Nichtchrist, bist du, was auch immer aber nicht Gut.

Nachtrag:
Wir sollten besser die Story mit der Exfreundin des sich selbst geißelnden Herrn Kids in Augenschein nehmen. Seine Gedanken dazu sind treffend, so richtig aus der Mitte.

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glueckskeks - Donnerstag, 20. April 2006, 13:17
männer, die weinen... tut denen doch meistens gut, mal weinen... da sollte man als frau nicht undankbar sein und etwa niedere beweggründe wie einem ball nachlaufende geschlechtsgenossen in shorts und kniestrümpfen bemängeln. weinen is kathartisch, is jetz mal egal warum!

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burnster - Mittwoch, 19. April 2006, 13:03
Aus dem Off:

Ich hatte diese Überschrift auch einmal benutzt, seitdem haun mir die Google Referrer eben diese Suchanfrage um die Ohren. Viel Spaß damit.

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kid37 - Mittwoch, 19. April 2006, 15:19
Aureole numinosa
Achten Sie bitte auch auf die mitfotografierte Aura auf dem vorletzten Bild.

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lady.death1 - Mittwoch, 19. April 2006, 18:06
Haben die auch Fischer Nägel benutzt zum kreuzigen?
Nicht das der Kerl wieder abgeht?!
Das würde kein gutes Licht auf die Vollstrecker werfen,
man sagt ja Italienern eher eine endgültige Lösung der Probleme nach..

Übrigens hatten wir tierisches Glück,
das sie "ihn"
damals nicht ertränkt hatten.
dann hätten wir alle ein Aquarium über der Türe hängen
wie hätten sie das dann nachgestellt?

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pathologe - Mittwoch, 19. April 2006, 18:16
Fischer-Dübel...
...bitteschön.

Wir können von Glück sagen, dass die Angelegenheit nicht im Sizilien der Zeitenwende stattgefunden hat (wenn auch von Darstellern aus dieser Ecke Europas vorgetragen). Denn einen Kreuzzug mit Beton an den Füßen bis zu den Gestaden der Wupper stelle ich mir ein wenig mühsamer vor...

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kaltmamsell - Mittwoch, 19. April 2006, 18:59
Vielen Dank für den Bericht. Parallelgesellschaften haben durchaus Vorzüge.
Erinnert mich sofort an Jesus von Montreal, der mir seinerzeit sehr gefallen hat. Aber da war ich auch noch gläubig.

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nase - Donnerstag, 20. April 2006, 01:47
und wennse das nächste mal in wuppertal sind, dann kommense vorbei, hier im maroden abgegriffenen und verwegenen teil vom düsseldörfchen...

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cabman - Donnerstag, 20. April 2006, 10:08
Im Grunde...
...sind wir doch alle Würstchen. Der eine mag nun denken: Jawohl! Der andere vielleicht: Impertinent! Im Grunde aber brauchen wir doch alle ein einigendes Mäntelchen oder vielmehr Schutzfölchen. Ob sich das nun als religiöse Massenvereinigung oder als Mitgliedschaft in anderen Randgruppen, wie dem Fanclub des HSV, präsentiert, ist doch, rein bildlich, Wurscht. Hauptsache, wie kommen nicht gleich auf den Grill.

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kid37 - Donnerstag, 20. April 2006, 22:12
Out of the frying pan, into the fire. Die Angst vor dem Gegentor hat schon manche Verteidigung geeint, in der Tat.

Es soll aber egal sein, woraus man seine ethischen überzeugungen ableitet. Fußballphilosophen haben schon viele Weisheiten des Lebens überzeugend darstellen können. Die Eucharistiefeierlichkeiten im Juni lassen noch einiges erwarten. Notfalls auch das Grillen in den Stadtparks nebenan.

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engl - Donnerstag, 20. April 2006, 18:36
ach ja, diese verkrochene, kleine stadt mit eigenem ölberg.

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kid37 - Donnerstag, 20. April 2006, 22:04
Der eigene Ölberg. Das ist überhaupt so faszinierend an dieser engen, zusammengekauerten Stadt.

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jazz - Samstag, 22. April 2006, 19:48
Danke für den Bericht.
Endlich mal wieder ein Grund mehr auf der viel zu kurzen Gründeliste für einen Wuppertal-Besuch. Seit dem A46-Horror-Stau auf dem Weg zur Fern-Uni-Klausur nach Deppendorf meide ich das Städtchen leider großräumig.

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