Nachrichten aus der Bahn



Auf den Bahnsteigen des Hamburger Hauptbahnhofs wurden die Sitzbänke entfernt, denn der Rast Bedürftige fahren nicht Bahn. Die frühzeitig Erschienenen nicht, die Alten nicht und auch keine Behinderten. Nur junge, frische Menschen mit Muskeln, Rucksack und Zugbindungssparpreistickets. Die können sich gegen die ersatzweise aufgestellten angeschrägten Anlehnhilfen stellen. Wer nicht stehen kann, sinkt kniend hin zu Boden und klaget seinem Bahncard-Gott. Eine provokante Gedankenlosigkeit..

Im Waggon stolpern und blockieren und ebenfalls wehklagen die, die zu stur für eine Reservierung waren und nun den Koffer- und Personenverstauverkehr aufhalten wie Menschen, die einen Regenschirm einmal im Haus geöffnet haben oder sonstwie vom Pech verfolgt sind. Darunter welche, die nicht begreifen, dass in dem Satz "Entschuldigen Sie bitte, wir haben reserviert" eine Handlungsaufforderung liegt. Wer sitzt, darf aus dem Fenster schauen. Eine gleichförmige Landschaft rauscht vorbei, das platte Land des Nordens. Das sanfte Tak-Tak der Räder wie anschwellender Bockigkeitsgesang auf den Schienen. Arkadien des Ruhebereichs. Ein Knirps, der kaum sprechen kann, sitzt bei seinem Vater auf dem Schoß und spielt auf dem Tablet ein sogenanntes Lernprogramm. Bilderrätsel, von kleinen Fingern schneller gelöst als ich erkennen kann, um was es dabei eigentlich geht. Der künftige König der Captchas ist geboren!

Auf Arte läuft eine Doku zur Frage Revival des Zugfahrens? mit François Schuiten (und seinem Hund Jim). Darin das Wort von der Banalisierung des Bahnfahrens (also "Bahnalsierung"), was der Herabwirtschaftung erst recht die Weiche gestellt hat. Bahnhöfe, die nicht mehr Kathedralen, sondern (ruheplatzlose) Abfertigungshallen gleichen, Fahrpläne mit Empfehlungscharakter, Verbindungen auf gut Glück. Zehn Minuten Verspätung auf der Hinfahrt, 20 bei der Rückkehr. Das geht doch. Es waren aber auch Direktverbindungen ohne Anschlussprobleme.

Ein von mir gestalteter Zug der Träume, so meditierte ich in einem dieser engen Sitze mit den schmalen Lehnen, besäße einen Waggon mit einer Maniküre und einem Frisör - damit man nicht derangiert zum Geschäftstermin oder Familienfest erscheint. Für adäquate Kleidung sorgte ein Waggon mit Mister Minit und Änderungsschneiderei, fürs Wohlbefinden sorgte ein Rückenmasseur. Nachmittags würde von einem Konditor portugiesisches Süßgebäck verteilt, im Bordnetz liefen Beiträge aus der Antville- und Blogger.de-Welt.

Ausfallschritt | 20:27h, von kid37 | Kondolieren | Link

 
nnier - Donnerstag, 17. Oktober 2024, 21:12
Ach. Es schmerzt, sich das bewusst zu machen: Wie schön (auch kleine) Bahnhöfe waren, wie all die kleinen Bahnwärterhäuschen und Streckenposten Teil eines großen, irgendwie doch gemeinsamen Ganzen zu sein schienen, das ist nicht nur Faller-Nostalgie.

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kid37 - Donnerstag, 17. Oktober 2024, 21:47
Ja. Die Vision, die man damit verband, wurde auch gezeigt. Repräsentationsgebäude sind diese Bauten schon lange nicht mehr. Die mangelnde Wertschätzung übertrug sich wohl aufs ganze System.

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twasbo - Donnerstag, 17. Oktober 2024, 21:56
In Sachen publizistischer Bahnkritik macht mir als einstmals offiziellem DB-Testkunden niemand etwas vor. Und dennoch habe ich erst vor zwei Wochen folgendes erlebt: von Südtirol nach Hamburg über insgesamt vier Verbindungen in gut zwölf Stunden – mit am Ende 1 Minute Verspätung. Gut, den Kampf um Sitzplätze und vor allem Stauraum für das großzügig bemessene Gepäck lasse ich hier beiseite. Aber Leute: Es gibt noch Hoffnung!

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kid37 - Donnerstag, 17. Oktober 2024, 22:00
Ich kann das im Grunde bestätigen - vor ein paar Jahren fuhr ich von Hamburg nach München und war auf die Minute pünktlich (Premiumstrecke halt). Insgesamt - und darauf zielt ja auch die kleine Arte-Doku - ist es aber beklagenswert, wie der Betrieb und sein Service im Zug und auf den Bahnsteigen und drumherum zur Nebensache werden. Bestes Beispiel Berlin HBF, bei dem man nicht weiß, ob es nicht doch bloß ein Einkaufscenter mit Bahnanschluss ist.

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