Im 19. Jahrhundert durften Frauen nur wenige Berufe ergreifen. Das Leben im städtischen Bürgertum verdammte die wohlhabenderen unter ihnen zu einem Leben im Haus und in damit verbundener Eintönigkeit. Vor diesem nebligen Hintergrund aus Langeweile und Unterforderung entwickelten sich allerlei Marotten, die Flucht in Opiate etwa, besessene Sammelleidenschaften profaner Dinge, die morbide Stickkunst aus den Haaren Verflossener, das Schreiben von Büchern.
Abwechslung brachten aber auch Moden wie der Besitz exotischer Tiere oder Pflanzen (dazu später einmal mehr), esoterischer Spinstereien oder das Spielen harmloser bis anzüglicher Gesellschaftsspiele. In die Zeit dazwischen, also die ohne Gesellschaft, brach um 1852 herum eine launige Erfindung, die halb London in einen Rausch versetzte. Der Ingenieur Daniel F. Rube erfand Würfel, bald bekannt als Rube's Cubes, mit bedruckten Symbolen, Zahlen oder einfach Buchstaben, die miteinander in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen waren.
Die Würfel mussten gestapelt werden, was heutzutage im Rückblick fast banal leicht klingt, in der viktorianischen Zeit aber eine Herausforderung war. Zumal nicht alle Damen des Hauses so belesen waren, wie man denkt oder auch nur das Alphabet von A bis Z kannten. Eine gedruckte, ausführliche Anleitung sollte helfen, wie man mehrere Würfel zu Türmen und Pyramiden schichten und gleichzeitig zeichensystemische Zusammenhänge wahrt. Also Zahlenräume abbildet oder eben das Alphabet.
Das konnte vorwärts oder rückwärts oder in erratischen Sprüngen getan werden, und so waren viele Frauen von der Vielfalt der Möglichkeiten und ihrer Entdeckung entzückt und rasch auch verlottert. Kaum war der Hausherr auf dem Weg ins Kontor, eilten ihre Gattinnen (oder die Töchter des Hauses) in den Salon, manchmal noch kaum angekleidet oder gekämmt, und versanken für Stunden in ihr Würfelspiel.
Die Vernachlässigung der häuslichen (und manchmal auch so genannter ehelicher) Pflichten blieb mit der Zeit auch den eher mit sich selbst beschäftigten Herren nicht unbemerkt. Moralisch entrüstete Artikel erschienen in der Zeitung, satirische Karikaturen überspitzten die Auswüchse der neuen Mode, erboste Pfarrer erbitterten sich von der Kanzel herab. Gleichwohl erschienen immer neue Varianten der verhexten Würfel in allen Größen und Farben. Manche lösten ihre Rätsel schnell, andere überhaupt nicht, aber die Begeisterung hatte die meisten erfasst. Von einigen wird berichtet, dass sie die Würfel auch abends am Familientisch oder sogar im ehelichen Bette nicht aus der Hand legen konnten oder nur darauf warteten, dass der Gatte schlief, um die heimlich versteckten Quader unter dem Kopfkissen hervorzuziehen.
Um 1860 herum begann die Manie abzuflauen. Die Würfel wurden in der Familie weitergereicht, die meisten landeten im Kinderzimmer und wurden von Kleinstkindern schon gestapelt - freilich zumeist ohne Sinn für strukturelle Zusammenhänge oder auch nur den Grundlagen der Physik und insbesondere der Schwerkraft. Es kümmerte aber niemanden mehr, die bourgeoise Gesellschaft hatte sich längst anderen Trends und Ablenkungen zugewandt.
Leider aber blieben manche auch "hängen", wie man so sagte. Die "Würfelkrankheit", wie sie ein Nervenarzt aus dieser Zeit beschrieb, hatte keine geringe Zahl von Frauen befallen. Von einer trübseligen cube mood erfasst, saßen sie wie antriebslos vor ihren Würfeln, unfähig zu Stapeln oder Sortieren und auch sonst nur schwer für andere Dinge zu begeistern, die außerhalb von gradlinig strukturierten Kästchen lagen. Die am schwersten betroffenen Würfelkranken konnten nicht mehr "out of the box"* denken, wie man damals sagte. Traurige Fälle, die man meist schnell aus dem Familienalbum entfernte, weshalb es davon nur noch wenige erhaltene Fotografien gibt.
/o\
Ich hoffe, Sie haben die Familienfotos auch groß an den Wänden.