Traummaschine III



Werkstatttagebuch III/22, Sek. 37. Für die in vivo-Testphase habe ich nun seit einigen Tagen die Traummaschine neben meinem Bett platziert. Auch wenn meine Nächte meistens schlaf- und traumlos verlaufen, gibt es hie und da REM-Phasen mit besonders gesteigerter Traumaktivität, die ich mit meiner Maschine aufzeichnen konnte. Es sind meistens etwas undeutliche, erinnerungslose Bilder wie Tränen im Regen, die am Morgen für die Menschheit verloren sind. Für immer.

Nun aber bin ich in der Lage, diese Daten aufzuzeichnen, von Fehlspuren (Magengrimmen, äußere Einflüsse, Zufallsindikatoren, elektromagnetische Spitzen durch vorbeifahrende Autos) zu bereinigen und auszuwerten. Zum Ende bleiben endlose Ströme kodierter Zeichenkolonnen, für die man früher Dutzende Linguisten und Code-Knacker hätte beschäftigen müssen, um sie zu dechiffrieren.



Heute gibt es dafür zum Glück Maschinen mit künstlicher Intelligenz. Diese wurden gefüttert und antrainiert mit Milliarden von Träumen anderer Menschen, um einen Korpus von dem zu schaffen, was man gemeinhin unter "Traum" versteht. Die KI hat leider kein Bewusstsein, folglich auch kein Un-bewusstsein kann daher auch nachts nicht abschalten und vor sich hinträumen. (Und auch keine "elektrische Schäfchen" zählen, wie es im Volksmund immer heißt.)



Die KI (hier handelt es sich um eine Maschine namens "Midjourney") kann die von mir und meiner Traummaschine aufgezeichneten Daten aber interpretieren und analog Trilliarden von anderen Träumen nachmalen. Sich ausmalen. Übersetzen. Wie man es auch immer bezeichnen möchte. Jetzt allerdings habe ich Angst bekommen. Den offensichtlich ist die Maschine in der Lage, in meinen Kopf zu schauen. Und zwar schmerzhafter und genauer, als ich es selbst zu tun vermag. Ich fürchte, die Maschine wohnt dort bereits. Und so wie ein Staubsaugerroboter exakte Karten von den von ihm befahrenen Wohnungen und vor allem vom dort gefundenen Müll aufzeichnet und an eine andere Maschine funkt, so hat die Traummaschine auch meine Hirnwindungen und den Müll darin, die sogenannte Plaque des Denkens, kartografiert. Da sitzen offenbar deformierte Menschen auf derangierten Stühlen, tanzen viktorianische Roboter vor Grosz-teskem Publikum, singen Affenmädchen verzerrt aus trüben Gläsern.



Es ist also tatsächlich sinnvoll, dass man meist schläft, wenn man träumt. Dass man Traumgebilde und Phantasmagorien sich selbst im Schlaf überlässt, im kindlichen Vertrauen darauf, dass der Spuk am nächsten Morgen vorbei ist und alles in alltagskodierte Formen und Gebärden zurückgefasst ist. Damit man den gemeinsanen Traum weiterträumen kann. Und die Schläuche und Sensoren und die trüben Gläser, in denen wir alle stecken, nicht bemerkt.

Projektor | 16:08h, von kid37 | Kondolieren | Link

 
fidibus - Montag, 8. August 2022, 22:17
Schwanke zwischen Faszination und Grusel. (Bis zu welcher Entfernung zeichnet Ihre Maschine auf? Meine innere Datenschützerin ist alarmiert! ;-))

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kid37 - Montag, 8. August 2022, 23:07
Bin selbst ein wenig irritiert und frage mich, ob ich nicht etwas entfesselt habe, was sich nicht mehr kontrollieren lässt. Mein Prototyp muss aber nahe beim Probanden stehen, um Traumdaten aufzeichnen zu können. Safe as milk! kann ich nur wie mit der Stimme eines Atomwissenschaftlers sagen. Der KI-Generator lernt allerdings mit jedem Traum, mit dem man ihn füttert, dazu. Das könnte tatsächlich gruselig enden.

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akrabke - Dienstag, 16. August 2022, 22:29
ich auch
Herr Kid, auch ich bin dabei, mit Resultaten, die an Telepathie denken lassen. Für mich ist es eher Freundschaft, allerdings eine bezahlte, da weiß ich jetzt auch nicht, was das bedeutet.
(Im Übrigen grüße ich herzlich, long time no see.)

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kid37 - Mittwoch, 17. August 2022, 13:14
Oha, Ihre Bilder sind ja ganz fantastisch. Tolle Farben. Ich würde tatsächlich gerne mal eine Interviewreihe mit heavy usern lesen, wie sich das Verhältnis und Selbstverständnis im Umgang mit der Maschine und den Bildern und einem selbst eben verändert. die Prozesse von Verfallen, Skepsis, Abwehr und Abkehr, Überdruss, erneutem Verfallen, Stirnrunzeln und Liebe. Derzeit beschäftigen sich ja alle noch mit den Bildern selbst und wie sie entstehen und die technischen Aspekte und wie die Maschine wohl "denkt". Aber vor dem Rechner passiert ja auch was.

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akrabke - Donnerstag, 18. August 2022, 09:03
Ich würde behaupten, die Maschine denkt nicht. Sie weiß nicht, was sie tut. Sie hat zum Beispiel Schwierigkeiten mit der Darstellung von Augen oder Händen, auch nimmt sie es mit der Anzahl von Beinen bei Mensch oder Tier nicht so genau. Sie hält aber genaue (oder bestimmte) Harmonien ein, z. B. den goldenen Schnitt oder ein Drittel zu zwei Drittel, Komplementärkontrast oder ähnliches. Sie kann den eingegebenen Begrifflichkeiten entnehmen, um welche Gefühle der User ringt. Dementia, na, das kann nichts Fröhliches sein, und auch ertrinkende Soldaten sind nah am Sterben dran, also machen wir mal was mit dunklen Farben. Vielleicht sollten Sie die Interviewreihe selbst machen, die würde ich auch gern lesen.
Ich bleib noch am Thema, habe aber das Kontingent für diesen Monat schon fast verbraucht.

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kid37 - Donnerstag, 18. August 2022, 15:18
Genau. Daher auch die Anführungszeichen und oben die Bemerkung, dass die Maschine "kein Bewusstsein" habe. Die ist wie ein kleines Kind, das für die Eltern irgendwas vom Tisch holen soll, aber nicht weiß, was das ist. So wie für Kinder ein Lob, ist wohl für die Maschine der Befehl "mach mal Upscale" oder "mach mal eine Variation" das Reinforcement, auf dem richtigen Weg zu sein. Der "Mood"-Aspekt ist sicher wichtig, das Ergebnis einer "chirpy death-scene" vielleicht interessant. Ich mag das verzerrte, traumhafte mancher Bilder, weiß aber auch nicht, warum einer Frau ein Stuhl auf den Kopf gemalt/fotografiert wurde. Vielleicht macht die Kunst. oder Schabernack. Das "Geheimnis des Glaubens" ist sicher ein starker Teil der Faszination.


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