Nordart by Nature



Man nennt sie auch die documenta des kleinen Mannes, aber das ist natürlich kein Wettbewerb. Da mich bislang nichts von dem, was ich von der aktuellen documenta gesehen oder gehört habe, irgendwie neugierig gemacht hat, nutzte ich lieber das Neuro-Ticket für einen Ausflug ins nicht allzu weit entfernte Büdelsdorf, gleich bei Rendsburg, auch bekannt als die Stadt am Nord-Ostsee-Kanal.



Bis zum 9.10. gibt es hier die Nordart zu sehen, ein Kunstfestival auf dem Gelände der ehemaligen Eisengießerei Carlhütte, das mittlerweile zum 23. Mal stattfindet. 200 internationale Künstler und Künstlerinne zeigen dort ihre Werke, zu einem großen Teil Skulpturen, die im weitläufigen Park und in der Carlshütte selber verteilt sind. Einer der Schwerpunkte dieses Jahr ist Kunst aus China und der Mongolei, die in der alten Wagenremise gezeigt wird. Ein weiterer Länderfokus liegt auf Polen.



Von Hamburg aus ist man mit dem Regionalzug und einer kurzen Busfahrt in anderthalb Stunden vor Ort, eine beschauliche Fahrt durchs Norddeutsche, hingetupften Einfamilienhaussiedlungen und Felderwirtschaft. Am Ende ist der Nord-Ostsee-Kanal erreicht, die Hochbrücke grüßt, dann auch Industriekultur, Eisen, Rost und aktuelle Kunst. Vieles von dem, was da auf einem weitläufigen Gelände gezeigt wird, hat nicht den Anspruch als "Weltkunst" wie auf der documenta durchzugehen. Und doch gibt es mitunter faszinierende Positionen, gewitzte Einfälle und wuchtige Metalskulpturen in allen Windungen und Deformationen zu bewundern.



Im polnischen Pavillion gibt es ein paar plakative, pop-motivige Sachen, die Sektionen mit chinesischer und mongolischer Kunst spreizen sich auf zwischen Kitsch süß-sauer, starken Farben und erdiger Wucht aus Material. Darunter eine übergroße Venus und schruppige Objekte, die sich mit den schrundigen Wänden und zerrissenen Nischen der alten Werkstätte verbinden. Eine zwischen rostigen Platten, Eisenträgern und alter Maschinerie aufgebaute Bühne gibt es auch. Ich habe jeden Moment die Einstürzenden Neubauten für ein kleines Impromptu-Konzert erwartet.




Die Installation im alten Leitstand hat mich so beeindruckt, dass ich mir völlig versunken den Namen des oder der Künstler:in nicht gemerkt habe. Eine Szenerie wie aus Twin Peaks: The Return oder Fire Walk With Me genommen zeigt die desolate Bude mit wehendem Vorhang und Projektionen in den Fenstern, die hilflose Gestalten zeigen, die offenbar um Hilfe rufen. Ab und zu ist Feuerschein zu sehen, und ich warte eine lange Zeit, ob jemand wie ein rußgeschwärzter Woodsman das Gedicht "This is the water and this is the well" zitiert. Aber so viel Twin Peaks ist dann doch nicht.

(Nachtrag und Hinweis aus den Kommentaren: Die Installation stammt von Pat van Boeckel. Danke!)





Zu Essen gibt es auf dem Gelände auch ein paar Kleinigkeiten, ausreichend Toiletten und vor allem Sitzgelegenheiten sowohl im Park als auch in der Eisengießerei. Einfach, um die Kunst anzuschauen oder um die alten Knochen auszuruhen. Sehr löblich!

>>> Webseite der Nordart
>>> Der Youtube-Kanal der Nordart mit Ausstellungsrundgängen und weiteren Infos

Flanieren | 23:51h, von kid37 | Kondolieren | Link

 
fidibus - Montag, 25. Juli 2022, 12:22
Begab mich pflichteifrig umgehend auf den virtuellen Rundgang. (Die Videoinstallation von Pat van Boeckel gibt's auch auf Vimeo.) Sehr toll!

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kid37 - Montag, 25. Juli 2022, 12:35
Fantastisch! Vielen Dank für die Recherche. Hab es gerade im Text nachgetragen und muss mir nun noch die anderen Sachen anschauen. Ich hatte bislang nie von ihm gehört, auf seiner Webseite scheinen aber interessante Dinge geborgen.

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twasbo - Montag, 25. Juli 2022, 17:28
Ach schau, da haben wir ja dieselben Wege gehabt, und beide waren wir auch noch mit dem "Neuro-Ticket" (geniale Wortschöpfung!) unterwegs.
Zur Ergänzung, Komplementierung und Anregung hier meine eigene Ausstellungs-Review: https://oliverdriesen.de/literatur/das-gegengift/

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kid37 - Montag, 25. Juli 2022, 17:51
Unterschreibe vieles (manches auch nicht, aber wo wären wir denn hier?!). Triennale der Fotografie ist auch eine schmerzende Wunde, das stimmt. Muß auch ihre Akribie loben, ich vergesse leider so häufig, bei größeren Veranstaltungen die Künstler zu nennen. Eine Unsitte.

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kuena - Montag, 25. Juli 2022, 18:12
Danke für Ihre Beiträge , Kommentare, Links. Ich war neulich auch dort, siehe hier und hier (Beiträege vom 29.06., in der Nähe der Toiletten) und ebendann und -da, also hier .

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kid37 - Montag, 25. Juli 2022, 22:24
Gern. Dann hatte ich Ihren MKS-Beitrag doch richtig zugeordnet. Und ja, es gab einiges zu sehen und zu entdecken, auch abseits des offiziellen Parcours.

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kuena - Dienstag, 26. Juli 2022, 10:39
Der Teich und umrum gehören unbedingt dazu. Für mich eben auch die Enten auf dem Teich: künstlerisch wertvoll.
Ich war zum ersten mal dort und total geflasht vom Gelände und den Ausstellungsräumen. Ein riesiges Gesammtkunstwerk. Da passt alles. Sogar der Eintrittspreis für den kleinen Mann. Wenn ich dagegen nach Kassel schau . . .

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