Rapunzels neue Burg

Silent,
I have pulled myself clear.

(PJ Harvey,
"Horses In My Dreams")




Wochenende, Sonne im Herbst. Wozu soll das gut sein? Die tiefstehenden Strahlen enthüllen nur eins: Ich habe die Fenster schon lange nicht mehr geputzt. Guter Anlaß also, sich lieber die dreckigen Fenster anderer Häuser anzuschauen. Die sogenannte "Sachsenburg" in der weiteren Nähe ist ja beim Versuch, sie ordentlich abzureißen, etwas unglücklich in der Mitte durchgebrochen. Das sieht nun aus als hätte ein besonders zorniger Gott mit der Faust aufs Haus geschlagen. Oder ein sehr, sehr großgewachsener Dreijähriger. Jetzt steht sie so da als Trümmermahnmal, die Spitze im Nebel, die bessere Hälfte immerhin schon weggeräumt. Das ist wie bei mancher guten Ehe.

Ab und an mal den Hof fegen, dort wo Erniedrigte und Beleidigte Lieder aus Les Misérables singen oder wie die Jungstudentinnen unten im Haus ausnahmsweise nicht auf ihre Smartphones "phubben", sondern ihre in der Hand getragene Tiefkühlware laut kommentieren (in etwa: "Die werde ich gleich essen!" - "Hm ja, ich auch!" - "Oh, ich freu mich schon so.") statt - jetzt nur als Beispiel - einem älteren Herrn aus der Hausgemeinschaft die Tageszeit zu erbieten oder die Türe offen zu halten. Ich sage jetzt auch nicht, um wen es sich dabei handelte.

Ich schüttel da nur den Kopf oder tippe daran und schweige auch (aber nicht hier) über das frisch zugezogene, offenbar sehr religiös angehauchte Pärchen in der Wohnung unter mir. Zu allerlei obskuren Tageszeiten, heute zum Beispiel noch vor dem Frühstück, gerne aber auch mal mitten in der Nacht, wird dort sehr laut gebetet, wobei sich vor allem die junge Frau mit einer gewissen Inbrunst hervortut. Jaja! ruft es da zum Lob eines hoffentlich nicht ganz so zornigen Gottes, manchmal auch in direkter Ansprache "Oh, Gott!", gefolgt meist von weiteren, in einer gewissen Ekstase hervorgejuchzten Ja! Ja! Ja!

Mächtig was los also in letzter Zeit hier in diesem kleinen Leuchtturm, wo ich wie ein weltentrückter, bescheidener Bischof über Dingen schwebe, dabei aber nicht einmal einen Reliquienkeller besitze. Ein weiterer Grund, so mit halb zugekniffenem Auge und folglich unauffällig nach einer neuen Unterkunft zu suchen, ehe mir alles zusammenbricht wie die Sachsenburg. Es gibt da interessante Wohnprojekte, Mehrgenerationenhäuser, Menschen aus unterschiedlichen Richtungen und in unterschiedlichen Verfassungen. Ein federndes Gemeinwesen in nuce. Leider kann ich nicht gut mit Menschen, das könnte ein Problem sein. Ein Haus für mich, ein Axolotl und meinen eingebildeten Hund wäre da mehr nach meinem Geschmack. In Dorset gibt es ganz hübsche, und ich könnte bei PJ Harvey um eine Tasse Milch nachfragen, sollte es mir an solcher mangeln. Zucker hat die wahrscheinlich nicht. Eine Scheibe Brot vielleicht. Nach Kuchen frage ich ja schon gar nicht mehr. Obwohl man sich da nicht täuschen darf: Die schönsten Frauen entpuppen sich mitunter als begnadete Kuchenbäckerinnen!

Dorset ist mir jedenfalls zu weit, ähnlich wie manche vorgelagerte Stadtteile von Hamburg. Vielleicht sollte ich doch erst mal den Rest der Sachsenburg besetzen, äh, spontan ausgedehnt besuchen. Oben, von der Nebel-Etage aus, hat man einen guten Ausblick auf hübschen Wohnraum in der Stadt. Mir gefiele das.

Homestory | 12:28h, von kid37 | Kondolieren | Link

 
maphisti - Donnerstag, 17. Oktober 2013, 14:49
Ich bete leiser.

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kid37 - Donnerstag, 17. Oktober 2013, 16:49
Stille Andacht.

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strassentaube - Donnerstag, 17. Oktober 2013, 14:55
Lautes "Beten" nervt.
Und deshalb bin ich ein Fan von schalldichten Wänden.

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kid37 - Donnerstag, 17. Oktober 2013, 16:50
Er murmelt immer so eine Litanei dazu, die ich aber nicht verstehen kann obwohl ich das Ohr am Heizungsrohr habe. Ich bekomme da heiße Ohren von.

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jammernich - Donnerstag, 17. Oktober 2013, 15:01
Ich bin sicher, das Beten wird mit der Zeit weniger...

Die Idee mit der Milch von PJ Harvey klingt doch irgendwie recht romantisch, obwohl so ein Loft hoch oben in der Sachsenburg...

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kid37 - Donnerstag, 17. Oktober 2013, 16:52
Die Messe ist irgendwann gesungen? Schön wär's. Bei aller religiöser Toleranz, es nervt tsatsächlich etwas. Zumal ich keine rechte Hoffnung habe, einmal zum Bibelkreis dazugebeten zu werden. Ich bin ja auch nicht mehr in der Kirche, ich weiß eh nicht mehr, wie das geht.

Die obere Etage hat sogar eine hübsche Dachterrase, auf der PJ Harvey ein kleines Konzert geben könnte man auch beten könnte.

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mark793 - Donnerstag, 17. Oktober 2013, 21:02
Ich bin ja auch nicht mehr in der Kirche, ich weiß eh nicht mehr, wie das geht.

Not lehrt bekanntlich beten, sprich: Das findet sich dann. Auch ohne Anleitung von Missionaren.

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kid37 - Donnerstag, 17. Oktober 2013, 22:04
Beten ist wie Radfahren, denke ich. Man verlernt es wohl nicht. Solange halte ich es wie früher: Erst gut zuhören, dann erst selber die Stimme erheben.

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m8 - Freitag, 18. Oktober 2013, 23:36
Ach! Es ging wirklich um Religion! Ich dachte, es geht um zu lauten Sex. Oder doch nicht? Drücken Sie sich doch mal eindeutig aus, hier! ;)

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maphisti - Samstag, 19. Oktober 2013, 00:13
'tschuldigung, dass ich mich hier einmische: Schließt denn das eine das andere aus? Muss ja nich ...

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kid37 - Samstag, 19. Oktober 2013, 00:42
Oha. Mir kommt auf einmal ein ungeheuerlicher Verdacht.

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maphisti - Samstag, 19. Oktober 2013, 00:47
Bitte keine Aufregung zu dieser Stunde!

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nnier - Donnerstag, 17. Oktober 2013, 16:05
Mir hat diese Art des Abbruchs sehr gefallen, und zwar nicht nur deshalb, weil ich anhand der genannten Umgebung für einige Zeit hoffen durfte, es habe jemandes Zorn ein ganz gewisses Gebäude schließlich doch noch zerschmettert, zehn Jahre zu spät, aber immerhin - doch dann kam eine tiefe Stimme vom Himmel und sagte: Scheiße, daneben. Als Steuermann in so einem Knabberbagger jedenfalls würde ich auch kreativ werden wollen, da bin ich mir sicher, z.B. mal ein Herz aus der Fassade brechen oder mit dem Sprengmeister um die Wette den Radetzkymarsch durch die Stockwerke laufen lassen.

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kid37 - Donnerstag, 17. Oktober 2013, 16:48
Für die Nicht-Hamburger hier noch mal zum Nachsehen.

Als ich gerade nach dem Video suchte, fiel mir auf, daß es da offenbar eine ganze Szene von filmemachenden Abbruchfans gibt. Allein bei dieser Zielgruppe würde diese Art von skulpturaler Street-Art ein großes Publikum finden.

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nnier - Donnerstag, 17. Oktober 2013, 21:02
Kann ich nachvollziehen, es ist ein wenig wie Jurassic Park. Wenn der Chef im Urlaub ist, kann man so ein Ding nach der Arbeit bestimmt auch mal mitnehmen, einen Parkplatz räumt man sich bei Bedarf eben frei. Bei zu intensiver Gottesanbetung einmal zart von außen an die Scheibe klopfen und an die Trennung von Staat und Kirche erinnern.

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kid37 - Donnerstag, 17. Oktober 2013, 22:00
Mit dem Beten auf dem Parkplatz ist das so eine Sache. Da sind schon viele blöde Dinge passiert.


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montez - Donnerstag, 17. Oktober 2013, 16:11
Jungstudentinnen sind auch nicht mehr das.

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kid37 - Donnerstag, 17. Oktober 2013, 16:53
Schlimmer noch: Ich werde unsichtbar!

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maphisti - Donnerstag, 17. Oktober 2013, 17:41
Oh, wie kann man Ihnen da nur helfen? - Dazu fällt mir leider nur ein: "Kyrie eleison!"

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montez - Donnerstag, 17. Oktober 2013, 18:23
Papperlapapp. Vielleicht in dieser Altersklasse.
Und überhaupt, wolln Sie etwa als Türaufhalteobjekt gesehen werden? Das wird ja immer besser. Noch Sitz anbieten in der U-Bahn wohlmöglich.

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maphisti - Donnerstag, 17. Oktober 2013, 20:23
Man kann ja auch zuweilen woanders beten. Ich hab das mal gemacht, auf der Eisenbahnbrücke über der Süderelbe. Das Abteil war aber auch ganz leer, hab keinen gestört.

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kid37 - Donnerstag, 17. Oktober 2013, 22:02
Mit der Eisenbahn zum Kirchentag sicher.

@Montez: Sitzplatzanbieten in der U-Bahn wäre toll. Aber die phubbenden Smartphone-Girls sehen mich alten Mann nicht, wenn ich zusteige.

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cabman - Donnerstag, 17. Oktober 2013, 23:10
Was wollen Sie denn von diesen jungen Dingern? Die Reife des Alters, Tiefgang, Geschmack und Seele, darauf kommt es an und glücklicherweise lässt sich all das auch in einem guten Rotwein finden. Der Rest ist doch rein hormonell, also behandelbar.

Das mit dem Kuchen nehme ich natürlich persönlich und als Anregung, vormals Besprochenes erneut anzuvisieren, aber nicht dieses Wochenende, da geh ich zum Theater-Workshop, als würde ich nicht schon oft genug aus der Rolle fallen, aber was will man machen, bei so Geschenken?

PS: Ich an Ihrer Stelle würde Ihre Hütte nie weggeben. Nie! Kommen Sie aber zu anderen Entschlüssen, haben Sie ja meine Nummer, zwecks meiner Hilfe, welche ich Ihnen hiermit andiene.

PPS In Wilhelmsburg soll ja nun auch recht schöner Wohnraum entstehen.

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kid37 - Freitag, 18. Oktober 2013, 01:41
Na, die könnten mir mal die Tür aufhalten. Oder "Guten Abend" sagen. Aber die haben halt auf ihren Smartphones gesehen, daß ich keine Facebookseite habe. Ergo existiere ich gar nicht. Ich verstehe doch, wie das läuft. Heutzutage.

Die Pläne sind mehr so mittelfristig, nach dem derzeitigen Stand der Dinge. Bei mir dauert ja immer alles recht lange, da muß ich früh anfangen. Meine kleine Vogelwarte hier am Wasser würde ich wirklich ungern aufgeben. Der Trend geht zum Zweitwohnsitz! Ein Retreat oder Feriendings. Atelier oder Bischofssitz oder eine alte Hühnerfarm im Osten.

Dieses Wochenende muß ich erstmal Fenster putzen. Ich hoffe, es regnet.

Aber dann!

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