Federweich



Nur kurz, ich habe keine Zeit, es ist Zeit für die Weihnachtsvorbereitungen. Heute Vormittag durch den frischgefallenen Schnee zum auch biologisch erzeugte und in Marken gehüllte Produkte veräußernden Süper Ü um die Ecke gestapft. Auch dort sind sie bereits da: Ein junges NeonNido-Pärchen nebst mitgeführtem in handgeflochtenem Freies-Wendland-Weiden-Maxicosi gebetteten Säugling, er so mit platzeinnehmendem Rucksack und Beanie-Mütze, das Klitzekind mit Beanie-Mützchen, sie so mit Einkaufswagen-im-Weg, und alle blockierend am Gemüsestand. "Sollen wir das mitnehmen oder lieber das?" säuselten die tiefenentspannten Gespräche, während unwirsche Arbeiterviertelrentner, die nun wiederum an einem Samstag auch nicht gerade einkaufen gehen müssen, versuchten, um das Kleinfamilienensemble zu kurven. "Ach, weißt du, was wir machen: wir nehmen was von dem hier mit, das kann man voll schön überbacken!" Entzücktes Jauchzen, ob dieser spontanen Idee, während ich gleichfalls spontan und aber auch entspannt, denn ich habe ja alle Zeit der Welt, versuchte, ebenso entschlossen wie einer dieser Arbeiterviertelrentner, aber mit Berechtigung am Samstag einzukaufen, um das Paar zu kurven. "Sollen wir nicht auch sowas hier reintun, für mehr Konsistenz?" wurde aber erst einmal raumgreifend weitere Essenspläne diskutiert, so daß Die Blockade am Gemüsestand (wie ich mein daraus entstehendes nächstes Buch nennen werde) anhielt.

Es ist eben Fest der allgemeinen Teilhabe. Warum vorher alles besprechen, Zettel machen, alle Dings zackzack in den Wagen und Platz machen, wenn man die essentiellen Dinge des Leben auch just in time vor allen Leuten zum Gemeinschaftserlebnis machen kann. Das wird noch hübsch werden mit diesen Gentrifizierern, die hier nach und nach einströmen und bald Klage führen werden, daß hier ja nix sei, während Alteinwohner wie ich am Stehtisch vor "Moni's Imbiss" ("Frühstück ab 5") mißmutige Blicke werfen werden. Muß man elastisch bleiben.

Daheim dann in Cary-Grant-Hausjacke geworfen und beschlossen, eine Schallplatte mit Weihnachtsliedern abzuspielen, um endlich mal feierliche Stimmung anzuleiern. Das ist ja ein Klassiker am Weihnachtsfest, Mann in Cary-Grant-Hausjacke, Frau sagt, ach, spiel doch mal die schöne Platte, dann wird grummelnd im Schallplattenstapel gesucht nach den "20 Greatest Christmas Hits" mit Bing und Mahalia und nach einem Jahr Betriebspause der Schallplattenspieler angeschaltet. Und immer und immer wieder kommt die erstaunte Klage (meist an Heiligabend, aber ich bin organisiert, ich teste das vorher schon): "Er geht nicht!" Wie. Ja, er geht nicht. Wie. Der Plattenspieler. Er geht nicht. Aber wir wollten doch die schöne Platte hören. Ja-ha, aber er geht nicht. Wie. (brummel, brummel, Mann rappelt am Gerät, betätigt Schalter und bewegliche Teile) Komisch, das ging doch neulich noch. Letztes Jahr. Ja, letztes Jahr.

Aber das ist oft im Leben so. Was vor einem Jahr noch ging, geht dann eben nicht mehr. Wer wüßte das besser als ich. Also die Ärmel der Cary-Grant-Hausjacke hochgekrempelt, das Feinwerkzeug geholt, den Plattenspieler ausgebaut, die Explosionszeichnungen, die ich vor Jahren mal aus diesem Internet heruntergeladen habe, (Ein Jingle für das Internet!) studiert und den kleinen über eine ausgefuchste Hebelmechanik bestätigten Ein-/Ausschalter am Motor nachgefettet. Schon lief er wieder an. Wieder alles zusammengebaut. Läuft. Oh, er geht nicht mehr aus. Round an around läuft der Teller... never, never, never stop (Bunnymen).

Also noch mal ausgebaut, die komplizierten Hebelläufe studiert. Offenbar eine Zugfeder, die entspannt wie eine Bilderbuch-Nidofamilie keinen ordentlichen Zug mehr drauf hat. Also mit der Sezierpinzette ("Schwester...") die Feder ausgebaut. [gekürz. Fssg.] Feder wiedergefunden und zum OP-Tisch getragen. Etwas gekürzt, nachgebogen. Wieder eingebaut [gekürz. Fssg.]. Läuft. Na ja, noch nicht so richtig, aber schon. Ich meine, der Tonarm hebt jetzt nicht mehr automatisch ab. Da muß ich noch mal in die Explosionszeichnung schauen. Könnte ein größeres Projekt werden, ideal zum Beispiel für stille Weihnachtstage, wenn man sonst nichts anderes (z.B. eine Eisenbahn) aufbauen muß. Oder sich selber.

Jetzt mal schön CD hören.

Homestory | 18:32h, von kid37 | Kondolieren | Link

 
cabman - Samstag, 22. Dezember 2012, 19:59
Ganz großes Kino, Herr Kid. Kurz vor Jahreschluß nochmal ein richtig hübscher Text und das aus zweierlei Gründen:

1.)

Bilderbuch-Nidofamilie bockt total, wie ich finde.

bocken (-k|k-): Habe ich vorhin in der Muckibude gerlent: Etwas bockt, oder eben nicht, wenn etwas Freude bereitet, oder eben nicht, nicht zu verwechseln mit

böckeln (-k|k-): intr. 1 nach Bock riechen; was nach längerer körperlicher Betätigung durchaus passieren kann.

2.)

Ein HEIMWERKER-Eintrag! Juchu! Gibt es viel zu selten, diese Berichte: ein Mensch, ein Werkzeugkoffer, ein Problem weniger... wenn Sie verstehen.

Ach und so: Herzlichen Glückwunsch dazu, dass Sie so was können, Explosionsskizze hin oder her, solch Geschick muß man erstmal beweisen!

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kid37 - Samstag, 22. Dezember 2012, 21:31
Ich habe Sie noch nicht beim Einkaufen beobachtet im Luxussupermarkt. Aber jede Wette, Sie und die werte Frau Gemahlin sind nicht so bräsig dabei. Außerdem können Sie in Ihrem Viertel machen, was Sie wollen.

Der Heimwerkererfolg war noch nicht ganz hundertprozentig, aber ich reite das Pferd noch zu, notfalls mit Tricks. (Oder, wie eine alte Exfreundin sagen würde, du und deine Provisorien wieder!)

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cut - Samstag, 22. Dezember 2012, 20:21
Heißt das etwa, Sie haben Monate, vielleicht ein ganzes Jahr, oder noch länger, ohne funktionierenden Plattenspieler verbracht? Das kann, darf doch nicht wahr sein!

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kid37 - Samstag, 22. Dezember 2012, 21:25
Das habe ich ja erst jetzt erfahren!

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monnemer - Samstag, 22. Dezember 2012, 20:23
Wenn das so weitergeht vorm Gemüsestand, hör ich auf zu essen. Halten Sie mich auf dem Laufenden.

Bei der Plattenspielerreparaturgeschichte (uff) bekam ich den Geruch von Zinnlot in die Nase.
Liegt wohl an einem Ferienjob in einer Stromzählerreparaturwerkstatt (ächz), in einer Zeit, als Cary Grant noch Firmen noch Telefonbau und Normalzeit hiessen.

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kid37 - Samstag, 22. Dezember 2012, 21:26
Das Zimmer riecht nach Zimt Lötzinn, Schmierfetten und erwärmten Staub. Wie früher.

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carodame - Samstag, 22. Dezember 2012, 22:34
butterzart
Danke für den zauberhaften jahresendflügelfigürlichen Beitrag.
Stimmt's, neben der Dose Lötfett krümelt das Kolophonium?

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kid37 - Sonntag, 23. Dezember 2012, 19:13
Das ist wie sonst nur die Spezereien aus der Weih-nachts-bäcker-ei.

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ana - Samstag, 22. Dezember 2012, 21:10
Solange die Gentrifizierer nur Gemüse zum Überbacken wollen, ist die Welt im Viertel doch fast noch in Ordnung. Bei mir im Biosupermarkt direkt um die Ecke gibt es für die Zugezogenen inzwischen Fleisch vom Wagyu-Rind. ( Das Kilo Lende davon kostet übrigens 150 Euro. ) Bald werden die hier noch schwarze Wintertrüffel führen. ( Da kosten dann schon hundert Gramm weit über das Doppelte. )

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kid37 - Samstag, 22. Dezember 2012, 21:28
Einmal mehr habe ich mich geärgert, letztes Jahr (als alles noch ging, auch der Plattenspieler) nicht diesen kleinen Garten gekauft zu haben. Neulich nämlich einen Bericht gesehen wie durch den Klimawandel die Trüffelzucht gen Norden wandert. Das wäre genau mein Ding gewesen. Und ich hätte das gleich hier ums Eck an junge Leute verkaufen können.

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merlix - Samstag, 22. Dezember 2012, 22:01
Es ist dann doch schön Sie auf der Höhe der Zeit zu sehen, als "domestic god" oder wie man die Bastelblogger jetzt nennt.

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kid37 - Sonntag, 23. Dezember 2012, 18:38
Ja, die Wunder der Mechanik. Vielleicht kann ich mich bewerben.

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montez - Samstag, 22. Dezember 2012, 22:27
Mit nachbarlicher Hilfe auch hier wieder ein sich leidlich dreherndes Schallplattenabspielgerät (samesame). Jetz kann die Greisin usw.

Ach, wie vermisse ich da sofort das Einkaufen im Biosupermarkt des Grauens, dt. Hauptstadt. Sehe die Szenerie genau vor mir. Mein Beileid. Nene.

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kid37 - Sonntag, 23. Dezember 2012, 18:35
Ich werde den Wandel hier gewissenhaft weiter protokollieren. Schön, daß sich bei Ihnen die Welt wieder dreht.

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kristof - Samstag, 22. Dezember 2012, 22:32
Machen Sie sich nix draus. Mein letzter Plattenspieler hatte Federvorfall und lief nur noch, wenn ich oben rechts neben dem Tonarm acht 50Pf-Münzen gestapelt habe. Auch noch zu Euro-Zeiten.

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kristof - Samstag, 22. Dezember 2012, 22:35
Oh, und hätte noch einen vorweihnachtlichen Musikvorschlag ...

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ksarco - Sonntag, 23. Dezember 2012, 00:12
.. jetzt einmal so ganz unverbissen und unvorweihnachtlich leger und äußerst relaxt betrachtet: Könnte Ihr vorweihnachtlicher Extrem-Intensiv- Technik-Reparatur-Anfall evtl. und ggf. der vage Ausdruck einer klitzekleinen, mäusewinzigen Übersprungsreaktion in Richtung Silvester sein?

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saxana - Sonntag, 23. Dezember 2012, 12:38
Besunderung für die Reparatur und vor allem die Geduld bei dem zweiten Anlauf. Traue mich nun gar nicht, meinen Plattenspieler zu benützen. Ich "spielte mit ihm" zuletzt .... vor so vielen Jahren, dass mir nicht mehr einfällt, wann.

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kid37 - Sonntag, 23. Dezember 2012, 18:34
Im Nachhinein glaube ich, es war gar nicht die Feder. So schnell leiern die nun auch nicht aus. Heute fröhlich pfeifend mal mit Alkohol den ganzen verharzten Schmodder von den Gelenken entfernt (ich meine immer noch den Plattenspieler!) und schön alles nachgefettet. Hier und da ein Tropfen Ballistol, das läuft jetzt schon wieder ganz rund. Der automatische Aufsetzpunkt für den Tonarm hatsich verstellt, aber das lasse ich mal als Projekt fürs nächstes Jahr.

Genau, an Sivester wird traditionell "Fireworks" von den Banshees gespielt. Aber vielleicht ist dieses Leben auch vorbei. Mal schauen.

Das sind eigentlich ganz gemütliche Gesellen, Kristof, aber manchmal dann doch auch übersensibel. Ich habe meinem gedroht, nur noch solche hübschen YT-Links zu spielen, da hat er schnell eingelenkt.

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mark793 - Sonntag, 23. Dezember 2012, 19:16
Trotzdem: Respekt vor Reparaturen an Mechanismen mit Federspannung! Das liegt mir so gar nicht (deswegen ist z.B. auch das Darkmobil nicht tiefergelegt, sondern immer noch standardgefedert).

Was hier aber mal Einsatz erfordert, sind die Tapedecks. Dieser Tage wollte ich eine meiner Mixcassetten von damals® wieder hören, da drehte sich gar nichts mehr. Mal sehen, ob ich es an den Antriebsriemen hängt und ob ich die gewechselt kriege.

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kid37 - Sonntag, 23. Dezember 2012, 19:58
Stillstand ist Tod
Wird dieselbe Sache sein: festgesetzte Wellen und rotierende Teile durch Nichtbenutzen. Das ist wie im echten Leben. (Mal von Hand anstoßen, ggf. reinigen und neu fetten.)

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cut - Sonntag, 23. Dezember 2012, 20:26
Und das Leben ist Analog
(Riemen im Tape-Deck sind die Hölle. Fetten, glaube ich, ist keine gute Idee. Würde mal, bei Bedarf, in einem Analog-Forum nachfragen. Da sind fast immer ein paar Cracks unterwegs, die gerne helfen.)

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kid37 - Sonntag, 23. Dezember 2012, 20:41
Die Riemen natürlich nicht ;-)

(Die leiern zwar irgenwann aus, aber wenn sich nichts mehr bewegt liegt das nicht an denen. Und Finger weg von Öl. Schön mit Alkohol den Schmand wegmachen und notfalls mit Vaseline probieren. Ist ja kein Kernkraftwerk.)

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mark793 - Sonntag, 23. Dezember 2012, 21:09
Habe diese Art Operation früher durchaus öfters durchgeführt - nur eben noch nicht an den beiden Geräten, die sich aktuell im Haushalt befinden.

Wahrscheinlich ist es eh besser, das in Angriff zu nehmen, wenn Töchterlein wieder Schule hat. Dann bekommt sie meine lästerlichen Flüche nicht mit.

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kid37 - Sonntag, 23. Dezember 2012, 21:20
Früher™ passierte das ja gern bei alten Röhrenradios. Die waren jahrelang auf einen Sender eingestellt, und wenn man doch mal drehen wollte, waren die Drehkos eingebacken.

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cut - Montag, 24. Dezember 2012, 11:44
Santa bring my baby back (to me)
Hier dreht sich jetzt übrigen Elvis' Christmas Album. Eine Wiederveröffentlichung. Die Original-LP von 57 (mit Sticker To: ... From: ... Elvis sings ... ) ist ja unbezahlbar.

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kid37 - Montag, 24. Dezember 2012, 13:23
Ich konter mit Dean Martin. Und Nat King Cole. Ich glaube, jetzt kann das Fest mal losgehen. Erstmal keine Musik, damit ich das Glöckchen nicht überhöre.

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ksarco - Montag, 24. Dezember 2012, 16:16
" In dulci jubilo ..." ! Irgendwann bringt das Ihr Plattenspieler bestimmt auch mal wieder! Kommt allerdings so drauf an ...

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c17h19no3 - Mittwoch, 26. Dezember 2012, 14:25
neonnido-pärchen... genialer ausdruck. hier im eppendorfer spießerviertel springen davon auch sehr viele rum und frequentieren den biomarkt, weil das ihre art ist, die welt zu verbessern. da endet der tellerrand spätestens an der windschutzscheibe der porsche-cayenne-eierschaukel. die denken, wenn da auf der eier-schachtel "von freilaufenden hühnern" steht, dass so eine massen-freilauf-tierhaltung besser als die käfig-schinderei ist. (ein entspechendes gespräch hab ich neulich im schnösel-edeka mitgehört, in dem ich mir immer meinen samstags-bagel hole.)

den sansibar-gekleideten kids wünsche ich punkmusik. sehr laute, die die gitterstäbe des swarovski-verzierten goldkäfigs ordentlich zu wackeln bringt. und eine schicke prügelei im montessori-kindergarten. denn das erste blaue auge nimmt auch ein stückchen blauäugige selbstverständlichkeit.

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kid37 - Donnerstag, 27. Dezember 2012, 19:32
Swarovski paßt hier aber nicht ins Bild, in diesem aufstrebenden Neo-Gentry-Stadtteil ist mehr bio und auch dynamisch, aber kein Lametta-BlingBling. Mit der nächsten Welle dann, wenn es heißt Brillies über Billstedt.

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