Lebensscheiben, transparent

For there are brighter sides to life
And I should know, because I've seen them
But not very often ...

(The Smiths, "Still Ill")

Wanderer in Skandinavien. Flohmarktfund

Neulich auf dem Flohmarkt bekam ich ein Kästchen mit alten Dias geschenkt. Reste aus einer Wohnungsauflösung, Dinge und Erinnerungen, die keiner mehr wollte. Die Fotografien stammen allem Anschein nach aus den späten 60ern, eher frühen 70ern. Vieles war uninteressant, Museumsbilder von antiken Skulpturen aus Griechenland. Ein Lehrer vielleicht, Kunst oder Geschichte. Griechenland war zu dieser Zeit, nach Italien, ein bevorzugtes Reiseland für junge Akademiker geworden. Jedenfalls leite ich das aus meinen Erinnerungen an endlose Dia- und Super-8-Filmschauen meiner damaligen Lehrer ab, die sie nach den Sommerferien in verdunkelten Klassenzimmern zeigten.

Das Eigenheim im Grünen, das auf manchen der Bildern auftaucht, Menschen auf der Terrasse, eine Hollywoodschaukel ist undeutlich zu sehen, deutet auf so einen Hintergrund hin. Der Vater Beamter, ebenfalls Lehrer vielleicht. Nachbarn zu Besuch, man diskutiert über den Weltenlauf. Ein kleiner Junge spielt im Gras. In einer Küche mit scheußlichen Siebziger-Jahre-Kacheln und Hängeschränken wäscht eine alte Dame Geschirr.

Gemeinsam, zu dritt oder viert, ging man auf Wanderungen durch Skandinavien. Kaitumjaure konnte ich auf der kritzeligen Beschriftung der glasgerahmten Dias entziffern. Das Wetter dort war nicht immer gut.

Die alte Dame ist nun sicher tot. Die Wanderer, denen die Dias gehörten, der junge Vater, die junge Mutter... nun, die Sachen stammten aus einer Wohnungsauflösung. Heute sind sie kein Paar. Einzig der kleine Junge, der allein auf dem Rasen vor dem Eigenheim spielte. Der müßte nun so alt sein wie ich. Etwas jünger sicherlich. Vielleicht wäscht er gerade irgendwo Geschirr.

Wunderkammer | 12:13h, von kid37 | Kondolieren | Link

 
saxanasnotizen.blogspot.com - Mittwoch, 8. November 2006, 12:52
Da weht es mich doch kühl an. Ob auch meine Fotocedes mal auf dem Flomarkt jemandem geschenkt werden, der dann auch so ein Blog schreibt?

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kid37 - Mittwoch, 8. November 2006, 13:08
Heute stellt man doch alles schon zu Lebzeiten bei Flckr ein.

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fragmente - Mittwoch, 8. November 2006, 15:13
Mich macht sowas ja immer ziemlich traurig: Erinnerungen, die keiner mehr haben will.

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diagonale - Mittwoch, 8. November 2006, 15:36
Das war auch mein erster Gedanke. Aber dann dachte ich, dass ich meine Erinnerungen auch lieber auf einem Trödelmarkt an einen Menschen verschenkt sehen möchte, der diese auch irgendwie würdigt, als einfach in den Müll geschmissen.
Letzteres dürfte allerdings leider die Regel sein.

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kid37 - Mittwoch, 8. November 2006, 16:02
Ein Stück Alltagsarchäologie. Andere erforschen Inka-Pyramiden. Für mich auch ein Blick in die eigene Vergangenheit (auch wenn wir kein Eigenheim besaßen und ich nie in Skandinavien wandern war) - und die eigene Zukunft. Das Paar auf der Wanderung, die Frau, deren Ellbogen so genau in die Taille des Mannes paßt. Eines Tages sind sie nicht mehr weitergegangen und ihre Erinnerungen sind nur noch Schwundmaterial auf Müllkippen und Flohmärkten.

Gefundene Fotos erzählen so viele Geschichten.

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cabman - Mittwoch, 8. November 2006, 17:08
Wie sahen denn die Kacheln aus?

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kid37 - Mittwoch, 8. November 2006, 22:54
Schlimm. (Floral, braun, beige, solche Sachen halt.)

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eon69 - Mittwoch, 8. November 2006, 17:39
Da kommen mir Erinnerungen hoch, an das knallorange Telefon, die längsgestreifte Hose und die mir immer zu langen Haare.

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kid37 - Mittwoch, 8. November 2006, 22:53
Wir hatten lange kein Telefon, und dann kam irgendwann ein griftgrünes. Schreckliche Sache, fällt mir gerade ein. Wenn ich mich mit meiner Freundin streiten wollte, mußte ich immer zur Telefonzelle.

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fishy_ - Mittwoch, 8. November 2006, 21:08
Diese Frage stelle ich mir desöfteren, wer sich wohl jemals meiner Hinterlassenschaften annehmen wird und was diese Dinge in diesem Menschen auslösen werden. Vielleicht wird es eine Nichte sein oder ein Fremder, ein Freund oder das noch ungeplante Kind? Whatever will be, will be.

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mark793 - Mittwoch, 8. November 2006, 22:05
Ich habe mal in einem akuten Anfall von hysterischer Nachlasshygiene bereits als Mittzzwanziger so manche Peinlichkeit meiner bewegten Jugend der Restmülltonne überantwortet: Bootlegs von den Gigs meiner Schülerband in der Schulaula und im Jugendhaus, die shormonstau-getriebene pseudo-expressionistische Lyrik, die ich beim Schuleschwänzen im übel beleumundeten "Café Old Vienna" in Mannheim verfasst hatte. Fotos, die mich in alkoholisierten oder sonstwie enthemmten Zuständen zeigten. Manchmal denke ich, das war vielleicht etwas voreilig. Heutzutage könnte man dergleichen ohne Gesichtsverlust bloggen - und vielleicht noch ein Jugendsünden-Stöckchen damit schnitzen...

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fishy_ - Mittwoch, 8. November 2006, 22:18
Noch habe ich nicht derart aufgeräumt. Eigentlich sollte es einem ja auch egal sein. Wenn man fott is, is man fott. Oder sollte man denen, die übrigbleiben es nicht noch schwerer machen, indem man zu viel oder zu wenig von sich übrig lässt? Ich geh mal dreist davon aus, dass ich mir mit diesen Überlegungen noch etwas Zeit lassen darf.

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kid37 - Mittwoch, 8. November 2006, 22:52
Fott is fott! Sehr richtig. Ich lebe ja in meinen Gemälden weiter. Die kennt nur keiner.

@Mark: Sie waren ja wirklich gründlich. Wenn der Blogger-Ruhm dann kommt, haben Sie gar keinen Back-Katalog, der sich fix zu Geld machen ließe. Ich hingegen ziehe, schwups, meine epigonenhafte Expressionismuslyrik aus der Lade und komme doch noch zur Nebenrente. Dann Finca und Käsebrot nur noch per Lieferservice!

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c17h19no3 - Mittwoch, 8. November 2006, 23:21
da muss ich spontan an "die wunderbare welt der amelie" denken, als sie das kästen im bad findet...
und: hübsche überschrift. ganz meine handschrift. ;)

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lady.death1 - Donnerstag, 9. November 2006, 10:21
Ist das nicht komisch, in den Erinnerungen fremder Menschen zu stöbern..
und dies als Anlass zu nehmen über seine eignen nachzudenken ...?

Hat die Flohmarkttype Dir vielleicht angesehen , dass Du genau DAS mal nötig hättest?
Und Dir deshalb die Dias überlassen?

;)

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kid37 - Donnerstag, 9. November 2006, 13:16
Genau das sollte ich ja eigentlich nicht tun. Lieber neue Erinnerungen machen ;-) Aber der Mann vom Flohmarkt hat vielleicht geahnt, daß niemand außer mir diesen "Müll" mitnehmen würde. Dias! Altmodischer Kram.

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petersilie - Donnerstag, 9. November 2006, 16:41
Versuchen Sie mal, heute irgendwo an einen Diaprojektor 'ranzukommen!
Meiner hat die lästige Angewohnheit, immer lautstark die Magazine zu zernagen - deshalb fristet er ein einsames Dasein unter einer dicken Staubschicht - aber immerhin im Originalkarton. In zwanzig Jahren hat wahrscheinlich der schon alleine Liebhaberwert - AGFA ist ja nicht mehr...
Und einmal mehr staune ich über mich selbst: Ich werde bei dem Thema gerade richtig nostalgisch und das, wo Diaabende doch schlichtweg der Horror meiner Jugend waren!
So alt bin ich also schon?

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kid37 - Donnerstag, 9. November 2006, 17:07
Sie suchen einen? Also auf diesen Flohmärkten... verschenkt werden die zwar nicht, aber da stehen selbst alte Zeiss und Braun achtlos und für wenig Geld herum. Ich kann denen leider nicht allen einen Gnadenhof bieten. Diaabende sind toll, das kennt doch heute keiner mehr. Auch wenn SvenK hier fröhlich drüber lästert. Ich glaube, ich schaue mir heute abend meine Lissabon-Dias an und knabber dazu Schokolade.

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fishy_ - Freitag, 10. November 2006, 00:12
Apropos neue Erinnerungen machen -- was ist aus dem für gestern angekündigten Serviettenfalten geworden? Ich hatte mich schon so auf den herbstlichen Bastelkurs mit Ihnen gefreut...

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kid37 - Freitag, 10. November 2006, 00:21
Herrje, Sie haben recht. Tierfiguren, Glaube-Liebe-Hoffnung-Symbole und andere putzige Origami-Varianten für die elegante Tafel wollte ich doch präsentieren. Aber Trunk und Schokoladenverzehr haben mich vom rechten Weg abgebracht. Verzeihen Sie mir bitte. Alle.

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frau klugscheisser - Freitag, 10. November 2006, 00:50
Te absolvum. No Kidding!

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petersilie - Freitag, 10. November 2006, 01:48
Ich glaube, Sie haben noch nie einen richtig heftigen Diaabend genossen. In einem früheren Leben kannte ich mal einen Herrn, und der hatte Eltern, die waren älter, als ihre Pseudostilmöbel vorgaben zu sein. Jeden Samstag mußte man auf die Couch (die gute!), wozu vorher alle Couchschoner sorgsam entfernt wurden. Dann gab's in der ARD irgendwelche Musikanten, die vorgaben fröhlich zu sein, alternativ Heimatmelodien oder sonstigen Almenzauber, und wenn man das überstanden hatte, kamen Papas Dias. Das war aber hochgradig semiprofessionell produziert, denn an den Diaprojektor war ein KASSETTENREKORDER (ich schreib' das so, weil die jungen Leute heute gar nicht mehr wissen, wie man das buchstabiert) gekoppelt. Aus diesem ertönten Geschichten mit alpiner Hintergrundmusik, man bekam Informationen über Land und Leute und über die Kuhfladen am Wege, denen die damals noch junge Mama gerade noch rechtzeitig beim Spaziergang ausgewichen war.
Wenn ich so darüber nachdenke, wollten die mich vielleicht einfach nur loswerden. Das ist ihnen dann ja auch gelungen.

Was ich sagen wollte war: Versuchen Sie mal heute einen neuen Diaprojektor anzuschaffen...
Ich bitte Sie, diese unpräzise Formulierung zu entschuldigen.

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kid37 - Freitag, 10. November 2006, 15:33
Das klingt doch nach einem ganz herzigen Abend im Schoße der Fremdfamilie. Bei uns gab es sowas leider wirklich nicht. Wir waren so arm, wenn wir was projiziert sehen wollten, mußten wir die Hände vor die Stehlampe halten. Aber so lebendig, wie Sie das geschildert haben, habe ich das Gefühl, dabei gewesen zu sein.

Schade, daß mir sobald keine Schwiegertochter ins Haus kommen wird, der ich von meinen endlosen Irrungen und Wanderungen erzählen könnte.

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fishy_ - Samstag, 11. November 2006, 14:42
Hände vor der Stehlampe - dann sind sie ja schon früh in die Kunst des Schattenspiels eingewiesen worden...
Schwiegertöchter kann man doch sicher im Freundeskreis ausborgen. Social Networking.
Oder wie wär's, Sie lüden statt zu einer Lesung mal zu einem Diaabend. Wir wären sicher ein geneigtes Publikum.

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kid37 - Samstag, 11. November 2006, 14:54
Sie bringen mich da auf eine Idee. Nicht mit der Leih-Schwiegertochter wohlgemerkt.

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fishy_ - Sonntag, 12. November 2006, 14:54
Wunderbar. Wir lassen uns überraschen.

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