Schaudern am Kanal


Das Frühstück "Masuren" im Hermetischen Café

Der erste Kaffee am frühen Morgen. Ich sitze am Fenster und zähle die Enten unten auf dem Kanal, will wissen, ob sich der Fuchs wieder eine geschnappt hat. Abends kann man ihn manchmal sehen, wie er das Wasser quert. Es gibt auch ein Nutria, also sicher eine kleine Gruppe, denn was macht ein Nutria allein, es kann ja nicht wie ich fantastische Bilder malen oder Cozy-History-Detektivserien im TV schauen. Solche Gedanken ordnen sich ein wenig bei der ersten Tasse Kaffee also, dem Blick auf Wasser und Vögel, dem Sprachfetzen der polnischen Arbeiter auf dem Gerüst am Nachbarhaus. Urlaub in Masuren! denke ich. Ich war aber noch nie da, wie will ich das beurteilen.

Dann ist es Zeit sich meiner gelehrten Arbeit (bin angestellt an mehreren Instituten) an meinem „Traktat über die Liebe und andere erschauernde Phänomene der niederen Natur, illustrirt vom Author selber“ zu widmen. Darin beschreibe ich beurteilungsfest, wie der Horror aus Filmen und Geschichten und Gegenwart im Grunde romantischer Natur ist. Denn, so lehrt es die Lebenserfahrung aus beiden Polen menschlicher Empfindsamkeit, muss die Enthüllung des Erwarteten gleichermaßen wie die des Befürchteten, um Spannung und Erregung des Gemüths aufzubauen, höchst langsam geschehen. Die Affekte regende Entkleidung des Monsters und seiner Natur gestaltet sich Stück für Stück. Die plumpe Entblößung indes – man kennt es aus jeder Straßenbahn – mündet unweigerlich in Gelächter. (So ziehe ich mich nur noch im Dunkeln aus.)

Da ist der gebannte Blick auf die Hand, die sich Stück für Stück aus einem Ärmel schiebt. Schüchtern oder gleich zärtlich, gierig oder gar bedrohlich, greifend, tastend, anziehend oder abstoßend, blutend oder schwitzend, mit sechs Fingern oder keinem – wir können den Blick nicht wenden, sind gebannt und voller Erwartung, wie lang der Arm noch werden wird. Nur das Verborgene sei erotisch, heißt es. Dies gilt gleichermaßen für den Horror, das lernen wir im Märchen. Denn wer den Namen des Rumpelstilzchens kennt, muss es nicht fürchten, wer den Anblick des bösen Biests erträgt, lockt den verwunschenen Prinzen daraus hervor. Der Horror ist erblickt, seine Macht verschwindet.


Wenn man das Licht einschaltet, verliert der Horror seinen Schrecken

So fülle ich fleißig mein Buch über die Sichtbaren Dinge und unerklärlichen wahrhaftigen Phänomene der Welt, das sich dereinst im Nachlass finden wird. Himmelsstürze, saure Milch, vom Grüßen und Begrüßtwerden, wie man den Garten vor Nacktschnecken schützt und sich selber gleich mit, das Unliebsame, Nachtgesänge, Rumoren im Bauch und andere Befindlichkeiten, das Phänomen zweier betrunken kommunizierender Röhren, die Handkurbel als zweitwichtigste Erfindung nach dem Rad, der Gang der Sterne als Ausdruck von Physik und Mutmaßung, usw. usf. – all das findet sich in dieser Enzyklopädie des erstaunlichen Wissens.

Am Nachbarhaus röhrt mittlerweile ein Bohrgerät. Die masurischen Satzfetzen werden kürzer und fliegen umher wie Möwen über dem Kanal. Der Kaffee ist getrunken, Gedanken sind gedacht, der Tag klopft an, noch unenthüllt. Verzückung oder Horror. Im Dunkeln kannst du alles sein.

Homestory | 13:07h, von kid37 | Kondolieren | Link

 
twasbo - Samstag, 12. April 2025, 16:20
Eine weitere Preziose (Achtung: vom Aussterben bedrohtes Wort) aus der Reihe "L'art pour l'art". Hier schreibt ein wahrhafter Stilist. Immer wieder ein Vergnüngen!

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kid37 - Montag, 14. April 2025, 18:56
Vielen Dank! Aber sind schon auch wissenschaftliche Erkenntnisse darin verbaut. Prodesse et delectare. Hoffe noch auf Forschungsförderung.

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frau eff - Samstag, 12. April 2025, 19:11
Der Fuchs schwimmt ... ?! Warum dann das wertvolle Fotomaterial an Monster verschwenden - legen Sie sich auf die Lauer, Ihnen werden von dort oben Naturfilmaufnahmen gelingen, die die Welt noch nicht gesehen hat. Oder sie verkleiden sich als Ente und warten mit der Kamera auf den Angriff. Wir sind gespannt.

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kid37 - Montag, 14. April 2025, 18:58
Habe es noch nicht mit eigenem Auge geschaut und vertraue dem geflüsterten Bericht einer Nachbarin. Mit der Tarnkleidung allerdings bringen Sie mich schon wieder auf Ideen. Ich habe ja ein kleines Boot und könnte dort einen großen Aufbau als gelbe Ente draufsetzen...

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nnier - Sonntag, 13. April 2025, 09:30
Enorm, was bei Ihnen alles während des ersten Kaffees stattfindet!

In meinem Fall ja eher so: Ach und weh, da kommt wieder dieses Wachbewusstsein, Autopilot an, Treppe runter, Mühle und Wasserkocher an, Aufguss, Tropfen Kondensmilch, Treppe hoch, herrje, jemand hat mich in die Welt geworfen, ersma Tass Kaff.
BLANK.
Oh, schon so spät, langsam mal aufstehen.
BLANK.


Ich fürchte, darüber lässt sich kein Buch schreiben.

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kid37 - Montag, 14. April 2025, 19:01
Das geht alles nur mit eiserner Aufsteh- und Denkdisziplin. Mich dürfen dann auch nur die Tiere ansprechen, so ist es nicht. Zum Glück droht in der Hinsicht auch keine Gefahr.

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fabe - Samstag, 19. April 2025, 00:39
Ich war 1987 in Masuren und seitdem auch nicht wieder
Es war schön dort. Ich habe meinen Ausweis verloren und auf dem Weg, ihn wieder zu finden, sind wir an einem toten Schwan vorbeigelaufen, dessen Körper schon fast ganz von Maden bedeckt war. Ein einziges Gewimmel. Ich weis nicht, ob wir den Ausweis wiedergefunden haben, aber ich bin zurückgekommen. Jeden Abend im Lager wurde aus "So zärtlich war Suleyken" gelesen. Wir hatten ein kleines Segelboot, auf dem das meiste Gepäck transportiert wurde. Sind dann noch nach Gdansk weitergereist. Menschen verkauften Buttons mit dem Slogan 'Better dead than red'. Von anderen Menschen habe ich einen Solidarnosc-Aufkleber gekauft und dann, zurück zu Hause, meine Eltern genötigt, den auf das Auto zu kleben, was sie auch bereitwillig getan haben. In Gdansk außerdem Softeis aus einer Maschine gegessen, die sehr alt war, und dann eine Salmonellenvergiftung gehabt. Keine Erinnerungen an die Heimreise.

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kid37 - Sonntag, 20. April 2025, 19:13
Alles an dieser Geschichte ist fantastisch! Ich kenne Masuren nur aus den Reiseberichten von Klaus Bednarz. Unsere Familiengeschichte endete (oder begann) westlich von Gdansk, reichte von dort dann aber bis nach Kanada und Wuppertal. Ich glaube, Softeis ist eine gute Petrischalengrundlage, wenn man so bunte Bakterienkulturbilder fotografieren möchte.

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tristessedeluxe - Montag, 21. April 2025, 21:13
Dankeschön. Hat mir gerade geholfen, diese Zeilen zu lesen.

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tristessedeluxe - Montag, 21. April 2025, 21:13
Dankeschön. Hat mir gerade geholfen, diese Zeilen zu lesen.

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kid37 - Dienstag, 22. April 2025, 15:03
Immer alles bei Licht betrachten.

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