Merz/Bow #78


Gartenmaschine nach Plänen um 1900

Hier war es ein wenig ruhiger, weil ich die meiste Zeit in meiner kleinen Werkstatt verbringe, wo es hinter dem Wandregal eine unsichtbar verborgene Tür gibt, die in mein geheimes Geheimlabor führt. Dort war ich aus altruistischen Gründen mit einer Erfindung beschäftigt, die ich nach Plänen aus einem alten Buch um 1900 gebaut habe. Man hört und liest in dieser Saison leider viel von einer sog. Schneckenplage in den Gärten. Traditionelle Haus- und Hilfsmittel ("Tradgardening") wirken offenbar nicht viel, so dass ich beschloss, die Lücke zwischen Vergrämung und Extermination mit einer Maschine zu füllen. Ein kleiner Turm (oder mehrere davon) wird mit einem geheimnisvollen (= zum Patent angemeldet) Metall gefüllt und mit einem optischen Sensor (= Auge) gekrönt. Dieser überwacht visuell das nächtliche Nagegeschehen rund ums Beet und setzt über einen Mechanismus (= kompliziert) aus dem elementaren Innern des Metalls eine saure Kraft frei (= Handelsname Sauron™), die eine gemeine Nacktschnecke in eine "schrumpelige Rosine" verwandelt, wie man unter hemdsärmeligen Gärtner:innen so sagen könnte. Leider ist diese saure Kraft noch nicht richtig regulierbar, weshalb bislang (= Betastadium) auch die Beete und all ihr Gemüse in eine graue, verdorrte Karglandschaft transformiert werden. Es ist ein Fluch und oft geht das eine nicht ohne das andere.

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Apropos Transformation. Vielleicht erst nach dem Essen, aber hier kann man den wunderbaren Kurzfilm (18 Min.) Wrought schauen, der als eher poetische denn wissenschaftliche Reise durch die faszinierende Welt der Dekomposition führt. Ein morbides "Koyaanisqatsi": Leuchtende Farben und amorphe Strukturen in organischem Material (Achtung, auch "Roadkill"), von Bakterien in Fäulnis und Fermentierung gesetzt und durch Zeitrafferaufnahmen lebendig gemacht. (Hätte mehr Arbeit am Text und im Tonstudio verdient.)

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Apropos altes Buch um 1900. Mit viel Freude lese ich derzeit in dem aktuell für kleines Geld angebotenem Schaubuch Inventions that didn't change the World von Julie Halls, das in dem für seine vorbildlich wundervoll aufgemachten (medizin-)historischen Bücher gerühmten Thames & Hudson-Verlag erschienen ist. Randvoll mit aus Archiven geschöpften Patentzeichnungen und Erläuterungen, versammelt es allerhand Ideen und Einfälle, die alle auch von mir hätten stammen können. Darunter Banales wie Zylinderhüte mit Ventilator oder Spazierstöcke mit Einschraubfach für die Zigarre, aber auch Erfindungen, die sehr wohl die Welt veränderten, wie etwa den per Handkurbel ausziehbaren Esstisch. Ein Mysterium ließ mich schlucken: Um 1852 wurde die geräuschlose Vorhangstange zum patent angemeldet, ein Umstand, der Twin Peaks-Fans wie von einer zu rasch zurückgezogenen Gardine vom Bett hochschrecken lassen dürfte. Eine geräuschlose Gardinenstange? Dem MacGuffin der revolutionären TV-Serie? Hier wird Geschichte neu geschrieben werden müssen.

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Apropos, Geschichte neu schreiben: Das Oxford English Dictionary weist die erste Quelle für das Wort "Cornice-pole" für das Jahr 1879 aus, was mit dem Fund in Inventions that didn't change the World widerlegt ist. Obwohl Laie auf diesem Gebiet, habe ich die Briten gleich angeschrieben und auf die veränderte Quellenlage hingewiesen. Ein akademischer Umsturz! dem einer an der Wahlurne folgte. Beinahe geräuschlos.

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Apropos Vergrämung. In einer kleinen Reportage des Saarländischen Rundfunks über die Sprengung eines stillgelegten Kraftwerks lerne ich neues Fachvokabular. So spricht man von "Niederlegung" und nicht wie ein ahnungsloser Amateur von "Sprengung", wenn ein Turm oder Gebäude zu Boden gebracht werden sollen. Vor dieser Niederlegung gibt es zudem eine umsichtige sogenannte "Vergrämungssprengung", mit der man Tiere aus dem Gelände scheucht. Mehrere Aktionen müssen in einer "Sprengchoreografie" koordiniert werden, damit nichts durcheinanderkommt oder einer der Zünder plötzlich ohne Kontaktverbindung dasteht. Ein Ballett der Explosionen, Rhein in Flammen für Anlieger und Detonationsschaulustige.

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Gärtner mit Schneckenplage verzichten versehentlich auf die Vergrämungssprengung, bringen aber bitte vorher die Igel raus.

MerzBow | 12:28h, von kid37 | Kondolieren | Link

 
nnier - Samstag, 6. Juli 2024, 15:58
Sieht heuer aus, als vergrämten die Schnecken die Gärtner, ganz ohne Sprengung. Ich könnte ein Lied davon singen, aber vielleicht fehlt bl0ß ein passendes von Tigerschnegel Tom Jones: Aus strategisch plazierten, wetterbeständigen Lautsprechern die Spanische Wegschnecke beschallen, sobald sie dem Beet zu nahe kommt - Markenname St. Florian (verschon meinen Salat, friss nebenan!), ist das vielleicht auch eine Idee mit Sprengkraft?

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