Auge, sei wachsam!


Henri Cartier-Bresson war ein Meister der Schwarzweißfotografie. Die Ausstellung bildet das ab

In einem entscheidenden Augenblick entkam ich heute gerade noch so dem glühenden Asphalt in der Innenstadt und schlüpfte in die Ausstellung "Watch! Watch! Watch! Henri Cartier-Bresson", die derzeit im Bucerius Kunstforum läuft. Über 200 Originalabzüge sind zu sehen, dazu Filme und Seiten seiner in Zeitschriften erschienenen Reportagen aus Indien, der Sowjetunion, China, den USA - und Hamburg, wo er nach dem Krieg ein paar Wochen verbrachte.


Hamburg ist viel kleiner als New York, das bereits damals eine große Stadt in den USA war. Aber das wussten zu dieser Zeit nicht viele

Im etwas labyrinthisch angelegten, mit vielen Winkeln und Nischen gestalteten Rundgang hat man sich schnell verlaufen, immerhin aber geben groß geletterte Schlagwörter wie "Mensch und Maschine" etwas Orientierung. Ansonsten heißt es, treiben lassen und ein Auge haben für den Moment, wo man merkt, he, das Foto kenne ich doch! Ich bin gar nicht mal ein großer Fan von Henri Cartier-Bresson (1908-2004) oder "HCB", wie ihn echte Fans und Freunde nennen. Aber man spürt rasch, wie das Bildergedächtnis angetickt wird, visuell dort Eingebranntes aufblitzt und man anerkennen muss, dass ungefähr jedes bedeutende, kanonisierte Foto aus den 30ern bis 60er-Jahren von diesem Franzosen mit der Leica stammt.


Steampunk in Hamburg, 50er Jahre

Menschen, die über Pfützen springen, Männer, die durch einen Bauzaun luschern, der junge Truman Capote im Gebüsch, Alberto Giacometti mit über dem Kopf gezogenem Mantel im Regen, im Grunde füllte er ganze Jahrgänge der einstmals berühmten Zeitschrift Life mit seinen Fotos, die dadurch selbst berühmt wurden. Als Mitbegründer der Agentur Magnum (ebenfalls weltberühmt) war HCB "erste Adresse", sein Stil und sein berühmter Ausspruch vom "entscheidenden Augenblick" gebar Generationen von Epigonen und eifrigen Schülern. Dabei weiß man heute, dass manche seiner Mantras nicht ganz ernst zu nehmen sind. So entstand auch bei Cartier-Bresson das Bild nicht ausschließlich in der Kamera. Sein berühmter Pfützensprung etwa, durch einen Baustellenzaun fotografiert, musste in der Dunkelkammer am linken und rechten Rand¹ beschnitten werden, um Gerümpel und störende Elemente zu entfernen. Hier hat ihre Fotoheiligkeit geschummelt.

Was man in der Ausstellung gut lernt und auch begreifen kann, ist, dass der "entscheidende Augenblick" nicht nur als Zeitmoment zu verstehen ist. Seine Reportagen fingen dann außergewöhnliche Situationen ein, wenn er die Kamera in "uninteressante" Ecke wendete. Wie bei der Krönungsfeier für George VI in London, wo er nicht wie wohl alle seine Kollegen um ihn herum die Linse auf Mächtige und Monarchen hielt, sondern auf begeisterte und entrückte Zuschauer. Leute wie du und ich. Einfach mal die Laufrichtung ändern! und in die angeblich langweiligen Ecken schauen, und zwar genau. Sag ich doch.

>>> "Watch! Watch! Watch! Henric Cartier-Bresson". Bucerius Kunst Forum, Hamburg. Bis 22.9.2024

Flanieren | 20:22h, von kid37 | Kondolieren | Link

 
zeilensturm - Dienstag, 25. Juni 2024, 17:51
Allein schon für die das Aussterben des mittelnordostwestlichen Platts hinauszögernde Verwendung des Wortes "luschern" war diese Rezension ihr (mein) vieles Geld wert!

Ach ja, und in die Ausstellung will ich jetzt auch. Revanchiere mich vermutlich am Wochenende mit einem eigenen Ausstellungstipp.

 link  
 
kid37 - Dienstag, 25. Juni 2024, 18:15
Bin ja enttäuscht, dass die Ausstellung in Hamburg nicht entsprechend "Luschern! Luschern! Luschern!" heißt. Aber als New York Westdeutschlands kann man es ruhig international angehen. Viel Spaß!

 link  
 
fritz_ - Dienstag, 25. Juni 2024, 18:55
In Hamburg fände ich Missingsch fast noch plausibler als Platt, oder? Hat Heidi Kabel geluschert? (ein schönes Wort)
Luschern ist mit lauschen und lauern verwandt. Die sind dem Ursprung nach zwar nicht niederdeutsch, aber da kann das Wort ja weiß Gott nichts dafür und es geht bei den Sprachen sowieso zu wie bei Hempels unterm Sofa.

 link  
 
kid37 - Dienstag, 25. Juni 2024, 19:15
Heidi Kabel konnte sicher luschern und lauschen. Es war, glaube ich, so, dass die Aufführungen im Ohnsorg Theater auf Platt waren, für die ARD-Sendungen aber "gemäßigte" Missingsch-Versionen angefertigt wurden. Das HCB-Foto wiederum ist in Belgien entstanden (Brüssel, glaube ich). Da haben wir ja wiederum ein weiteres Sprachgemisch.

 link  
 
fritz_ - Mittwoch, 26. Juni 2024, 13:14
Da bin ich platt.

 link  
 
kaltmamsell - Dienstag, 25. Juni 2024, 20:53
Ach. Der Herr, der explizit verbot, seine Bilder für Veröffentlichungen irgendwie zu beschneiden, hat selbst den Augenblick beschnitten? TSE!

 link  
 
kid37 - Dienstag, 25. Juni 2024, 21:12
¹ Angeblich nur bei zwei seiner Fotos, eines ist der berühmte Pfützensprung (habe gerade noch mal nachgeschaut: dort wurde nur der linke Rand beschnitten, nicht beide. Er musste halt durch diesen Zaun fotografieren, und ein Brett schattete rein). Aber es ist wie immer: Der Traum von der reinen Lehre ist eben nur ein Traum.

 link  
 
kaltmamsell - Dienstag, 25. Juni 2024, 21:14
Fühle mich mit meiner Technik So-oft-auf-Schönes-draufhalten-bis-was-Brauchbares-rauskommt nicht mehr ganz so minderwertig.

 link  
 
kid37 - Dienstag, 25. Juni 2024, 21:20
Auch das geht mit dem Meister konform. "Die ersten [sehr große Zahl] Fotos sind die schlechtesten."

 link