Das brennendste Problem des 19. Jahrhunderts war die soziale Frage. Überbevölkerung und Wohnungsnot in den Städten, Arbeitslosigkeit und Hunger führten zu Hygieneproblemen, Krankheiten, Verwahrlosung und Verbrechen. "Hard Times", wie sie im gleichnamigen Roman von Charles Dickens grimmig und rußschwarz beschrieben sind. Aber die massenhaft aus der Provinz in die Städte geströmten Menschen fanden auch oft keinen Partner. Sogenannte Partnerschafts- und Eheanbahnungsinstitute erkannten hier einen Markt und bemühten sich (gegen gute Gebühr) um standesgemäße oder überhaupt eine Verkupplung. Diese diente weniger der romantischen Verbindung oder wenigstens amourösen Vergnügen, sondern der sozialen Absicherung gegenüber der Gewalt und Not auf den Straßen.
Auf dem Flohmarkt in Spitalsfield in London fand ich einmal eine Kiste mit Bewerbungsfotos dieser Zeit. Eine Agentur namens Finder hatte sich einen einprägsamen Werbespruch ausgedacht und ließ diesen von den heiratswilligen Kandidaten und Kandidatinnen auf Schilder schreiben: "Live, love, laugh" hieß dieses Mottto, das entgegen aller harschen Alltagsrealitäten Lebensfreude und Optimismus signalisieren sollte.
Das Motto wurde bald zum stehenden Begriff. Fragte man einen zahnlosen, zerlumpten Bettler in den verslumten Stadtteilen im Londoner Osten nach seinem Befinden, so kicherte er roh zurück "live, love, laugh, matey!" Lebensfrohe Armut, laut Rilke "ein stiller Glanz von innen", wurde so zur Inspiration für Lebenskünstler und eine saturierte Bürgerschaft, die bald den Slogan aufgriff und zum Trinkspruch in den feineren Absinthstuben, efeuumrankten Buchläden und den Seebädern im Südosten Englands erkor.
Natürlich spiegelte sich in den selbstbeschrifteten Schildern der meist niedrige Bildungsstand der Heiratskandidaten aus den unteren Schichten wieder. Allerlei eigentümliche und durch den Dialekt ihrer Herkunftsregionen und rührende Unbeholfenheit geprägte Fabulierungen verzerrten den heiteren Sinnspruch manchmal bis zur orthografischen Unkenntlichkeit. Aber damals wie heute gilt: Es liest sowieso niemand die Texte und Profile in Kontaktanzeigen.
Auch zahlreiche Damen finden sich in der Kartei. Meist etwas schüchtern und ebenfalls von niedrigem Bildungsstand, versuchten sie ihr Glück, von dessem Eintreten wir nichts wissen.
Warum lächelten die Menschen in viktorianischen Zeiten auf Fotos so selten, wo ist das "Lachen", das die Schilder verkünden? Nun, Zahnhygiene war noch nicht recht verbreitet. Zwar hatte ein William Addis um 1780 eine Bürste modernen Typs erfunden (im Gefängnis, wie man hört), doch blieb diese aufgrund der hohen Produktionskosten den wohlhabenderen Schichten vorbehalten. Der Zahnzustand in der breiteren Bevölkerung war daher im Allgemeinen eher schlecht. Für Heiratswillige also ein guter Grund, den Mund geschlossen zu halten (und nicht etwa die langen Belichtungszeiten beim Fotografieren, wie man oft hört).
Wie so oft ersetzte also das Wort die Tat. Blieb der Mund verkniffen, so sprachen die Buchstaben auf den Schildern um so lauter. Fast hört man das scheppernde Krachen von Bierhumpen aus Zinn und zischellautloses Gelächter durch schummrig beleuchtete Kopfsteingassen hallen. "Joy to the world!" schallte aus es aus dem Eastend, und "Live!" und "Love! und "Laugh!"
Leider war die Welt damals lange nicht so tolerant wie unsere und erlaubte sich so manchen frechen Scherz. So wurde die Aktion "Live, love, laugh" von herzlosen Fotografen bald parodiert und in noch herzloseren Satirezeitungen verunglimpft. Die Bewerbungsbilder der Agentur Finder wurden mit Affen aus dem Zoo nachgeäfftgestellt und dabei ganz ähnliche Schilder mit bewusst falscher Beschriftung verwendet, um sich in spöttischen Artikeln über die echten Kandidaten und "armen Narren, die öffentlich ihr Glück suchten" (so eine Artikelüberschrift) lustig zu machen. Die viktorianische Zeit war eben auch eine der brutalen Sitten und der großspurigen Überheblichkeit.
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