Samstag, 12. April 2025


Schaudern am Kanal


Das Frühstück "Masuren" im Hermetischen Café

Der erste Kaffee am frühen Morgen. Ich sitze am Fenster und zähle die Enten unten auf dem Kanal, will wissen, ob sich der Fuchs wieder eine geschnappt hat. Abends kann man ihn manchmal sehen, wie er das Wasser quert. Es gibt auch ein Nutria, also sicher eine kleine Gruppe, denn was macht ein Nutria allein, es kann ja nicht wie ich fantastische Bilder malen oder Cozy-History-Detektivserien im TV schauen. Solche Gedanken ordnen sich ein wenig bei der ersten Tasse Kaffee also, dem Blick auf Wasser und Vögel, dem Sprachfetzen der polnischen Arbeiter auf dem Gerüst am Nachbarhaus. Urlaub in Masuren! denke ich. Ich war aber noch nie da, wie will ich das beurteilen.

Dann ist es Zeit sich meiner gelehrten Arbeit (bin angestellt an mehreren Instituten) an meinem „Traktat über die Liebe und andere erschauernde Phänomene der niederen Natur, illustrirt vom Author selber“ zu widmen. Darin beschreibe ich beurteilungsfest, wie der Horror aus Filmen und Geschichten und Gegenwart im Grunde romantischer Natur ist. Denn, so lehrt es die Lebenserfahrung aus beiden Polen menschlicher Empfindsamkeit, muss die Enthüllung des Erwarteten gleichermaßen wie die des Befürchteten, um Spannung und Erregung des Gemüths aufzubauen, höchst langsam geschehen. Die Affekte regende Entkleidung des Monsters und seiner Natur gestaltet sich Stück für Stück. Die plumpe Entblößung indes – man kennt es aus jeder Straßenbahn – mündet unweigerlich in Gelächter. (So ziehe ich mich nur noch im Dunkeln aus.)

Da ist der gebannte Blick auf die Hand, die sich Stück für Stück aus einem Ärmel schiebt. Schüchtern oder gleich zärtlich, gierig oder gar bedrohlich, greifend, tastend, anziehend oder abstoßend, blutend oder schwitzend, mit sechs Fingern oder keinem – wir können den Blick nicht wenden, sind gebannt und voller Erwartung, wie lang der Arm noch werden wird. Nur das Verborgene sei erotisch, heißt es. Dies gilt gleichermaßen für den Horror, das lernen wir im Märchen. Denn wer den Namen des Rumpelstilzchens kennt, muss es nicht fürchten, wer den Anblick des bösen Biests erträgt, lockt den verwunschenen Prinzen daraus hervor. Der Horror ist erblickt, seine Macht verschwindet.


Wenn man das Licht einschaltet, verliert der Horror seinen Schrecken

So fülle ich fleißig mein Buch über die Sichtbaren Dinge und unerklärlichen wahrhaftigen Phänomene der Welt, das sich dereinst im Nachlass finden wird. Himmelsstürze, saure Milch, vom Grüßen und Begrüßtwerden, wie man den Garten vor Nacktschnecken schützt und sich selber gleich mit, das Unliebsame, Nachtgesänge, Rumoren im Bauch und andere Befindlichkeiten, das Phänomen zweier betrunken kommunizierender Röhren, die Handkurbel als zweitwichtigste Erfindung nach dem Rad, der Gang der Sterne als Ausdruck von Physik und Mutmaßung, usw. usf. – all das findet sich in dieser Enzyklopädie des erstaunlichen Wissens.

Am Nachbarhaus röhrt mittlerweile ein Bohrgerät. Die masurischen Satzfetzen werden kürzer und fliegen umher wie Möwen über dem Kanal. Der Kaffee ist getrunken, Gedanken sind gedacht, der Tag klopft an, noch unenthüllt. Verzückung oder Horror. Im Dunkeln kannst du alles sein.