Dienstag, 19. September 2023
Foto-Hotspot Brüssel: Stets steht jemand im Weg
Noch immer fehlt mir für das Konzept "Brüssel" die Zange, um die Stadt als solche zu ergreifen. Mein schon auf der Hinreise überpackter, schwerer Koffer - auf der Etappe bereits um das eine oder andere erleichtert - kehrte vollgestopft mit Widersprüchlichkeiten heim. Eine Stadt, in der liebliche Jugendstilmuster an Brut-Beton stehen, moderner Finanzprunk neben altem Barockprunk, mittelalterliches Kopfstein sich vor Bankentürmen pflastert, lässt sich schwer in Schubladen pressen. Mein Hotel (Notiz an mich: beim nächsten Mal bitte wieder Ferienwohnung) lag zentrumsnah zwischen dem Kunstberg mit seinen Museen und der berühmten Kathedrale St. Michael und St. Gudula (der Schutzheiligen der Stadt), was für einen ersten Besuch nicht ganz dumm war. Die wichtigsten Sehenswürdigkeiten hat man so als lahmender Fußgänger schnell beguckt - oder wenigstens erhascht. Denn in Brüssel gilt: Was auch immer man fotografieren will, es steht jemand im Weg (s. Abb. 1).
Brüssel: Männeken-Pis, Schutzpatron der Blasenschwachen, mit zeitgenössischer hl. Monstranz und moderatem Strahl
Insbesondere die international bekannten Nationaldenkmäler, wie der berühmte freimütig pinkelnde Knabe, der wirklich sehr klein ist, sind von Touristen umlagert. An Stöcken halten sie ihre Smartphone-Monstranz in die Höhe, um ein Foto vom kleinen Männchen machen zu können, Reiseführer erzählen derweil schlüpfrige Anekdoten vor kichernden Menschen, die ebenfalls schnell noch ein Selfie beim Wassersport machen wollen. An vielen anderen Plätzen dasselbe Spiel. Anders als das Männeken-Pis, läuft Brüssel einfach über. Man kommt darüber aber auch ins Gespräch. Eigentlich in dem Alter, in dem man für junge Frauen unsichtbar geworden ist, wurde ich immer wieder unerwartet von freudestrahlenden Asiatinnen angesprochen (wohl, weil ich fünf Kameras umhängen hatte), die mir mit "Can you take my picture, pleeeese?" ihr Smartphone in die Hand drückten und wie für einen Reisekalender vor Säulen oder pittoresken Wänden posierten. Allein deshalb ist es wichtig, mit der Entwicklung Schritt zu halten und moderne Kulturtechniken wie die Handyfotografie zu erlernen!
Wuppertal: Männeken-Pis, abstrakte Version "Heimwerker", mit ordentlich Druck
Insgesamt lohnt sich ein Vergleich mit der Zwischenetappe Wuppertal, eine Stadt die man auch Klein-Brüssel nennt. Ähnlich zerrissen und widerspenstig, retro-modern (was der einen Stadt ihr Atomium, ist der anderen die Schwebebahn) und oft auch rott - und beide mit imposanten Bankentürmen (gut, in Wuppertal ist es nur die Sparkasse). Auf das Wuppertaler Männeken-Pis, nicht weniger imposant, dafür abstrakter in der Ausführung, hat man bei für die Region typipschen Starkregen immerhin freie Sicht für eindrucksvolle Fotos. Touristen, die hier ein Selfie machen wollen, gilt es allerdgins erst noch anzulocken. (Liebe Stadt Wuppertal, hier braucht es eine interessante Backstory. Sprecht mich an!)
Brüssel: Bücherschrank mit Gravitas an Prachtbau
In Brüssel aber überall Kunst, Literatur und Musik: Es gibt die Fondation Brel, die sich dem Leben und Werk Jacques Brels widmet, ein ausnahmsweise nicht von Victor Horta, dem stadtbildprägenden Jugendstil-Architekten, entworfenes Musikinstrumentenmuseum, profan-sakrale Bücherschränke und Antiquariate, eine Klanginstallation mit Vogelstimmen in einem wirklich sehr kleinen Park, erstaunlich wenig Graffiti in der Innenstadt (aber auch erstaunlich viele Überwachungskameras), eine Theater- und Musikbühne im Königlichen Park, sogar surreale eScooter-Fahrten sind dabei.
Nahe des Magritte-Museums gibt es eScooter für geisterhafte Touristen im Schulze & Schultze-Look
Ansonsten sind auch hier die Dinger wie überall eine Pest, stehen oder liegen kreuz und quer auf Gehwegen - und haben noch nicht einmal ein Nummernschild. Eine EU-Verordnung wäre hier angebracht oder eine konsequente Verfolung durch das weltberühmte Detektivduo aus den Tim & Struppi-Comics.
Rockstars international - allerdings nur männlich - an einem Fachgeschäft für Schallplatten
Man spricht übrigens viel Englisch in der Stadt, was teilweise auch zu einem verwirrenden Gemisch aus Französisch, Flämisch, Englisch und sogar Deutsch führen kann. Als Hamburger fragt man sich irgendwann, warum so viele Straßenbahnen nach Stade fahren, Homophonie ist halt ein trügerischer Freund. Selbst Weltliteraten haben hier viel aufgeschnappt. So kam Thomas Mann bei seinem Besuch in Brüssel einst eine wunderbare Idee für den Titel eines Familienromans.
Der Ursprung der Buddenbrooks wird heute oft fälschlich in Lübeck vermutet
Mit solch verwirrenden Eindrücken schleppt man sich abends dann müde zu Bett, wo sich bald im Traum allerlei floral gewundene Jugendstilmuster um einen ranken, Wasserfontänen aus kleinen Brunnen schießen (unbedingt schnell noch mal aufstehen!), asiatische Frauen mit Smartphones winken und Melonen-tragende Herren auf eScooter um einen herumkreisen.