Montag, 26. Dezember 2022


Wie die anderen feiern



Als Kind gab es an Heiligabend früher die wertvolle Kultursendung "Wie die anderen feiern" im Fernsehen. Während die Eltern noch Essen kochten oder irgendwas verpackten oder Staubsaugten oder den Weihnachtsbaum elektrifizierten oder sonstwie Unruhe verbreiteten, konnte man die elend lange Zeit bis das Glöckchen bimmelte und die Ankunft des Christkindes und - wichtiger noch - der Geschenke verkündete, vor der Kiste hocken und zuschauen, wie eben "die anderen" feiern. Da wurden Kinder und ihre Familien aus aller Welt gezeigt, aus Schweden etwa oder Nordamerika, und ihre Rituale und Traditionen rund um das große Fest.

Ich weiß nicht, ob es die Sendung noch gibt, vielleicht sind alle Völker auserzählt. Ein Grund mehr, um vielleicht mal in die Zeit zurückzugehen und zu schauen, wie unsere britischen Vorväter und -mütter im viktorianischen Zeitalter das Fest verbrachten. Als Geister, aber vor allem Zeugen dieser vergangenen Weihnachten habe ich zum Glück eine Vielzahl von Fotos vom Flohmarkt, die ein verblüffendes Bild von allerlei exzentrischen Moden und Gewohnheiten zeigen. Naturgemäß sind diese manchmal über 150 Jahre alten Fotos in teilweise beklagenswertem Zustand. Gesichter und andere Partien sind häufig unkenntlich geworden. Andererseits sind sie aber bemerkenswert genau und stammen aus einer Zeit, als Manipulationen durch Bildbearbeitungssoftware kein Thema war.



So gehörte - wir befinden uns in einer Zeit, in der die Fotografie gerade erfunden worden war und das Abbild das Alltagsleben Gesellschaftsschichten eroberte, die sich einen Porträtmaler nicht leisten konte - das Familienfoto vor dem geschmückten Baum rasch zum gerne praktiziertes Ritual. Das Schmücken selbst war indes noch Männersache, denn der frischgeschlagene Baum kam aus dem dunklen, geheimnisvollen Wald und galt mit seinen ausladenden Zweigen selbst als wild und ungezähmt; ein Stück Natur, das auch im heimischen Salon nur schwer zu bändigen war.





Am Ende wurde stolz hergezeigt - ein nur notdürfig buchstäblich "verkleidetes" Symbol einer bezwingenden Macht und allgemeinen virilen Potenz, so ersetzte der heidnische Weihnachtsbaum den Herrscherstab.




Den Söhnen des Hauses wurde oft ein kleines Exemplar eines Weihnachtsbaums zum Üben überlassen. So konnten die kleinen "Master" ihre noch vorpubertäre Kraft und ihren Mut trainieren.


Das nur scheinbar prüde viktorianische Zeitalter kannte zahlreiche Subkulturen. In Teilen der verborgenen Homosexuellenszene war der Ringkampf mit einem "Heidenbaum" fester Bestandteil der Weihnachtstradition.


Die Suffragetten schließlich ermächtigten sich im viktorianischen Zeitalter auch des strammen Baumes. Gleichwohl in der vorherrschenden Gesellschaft verpönt, griffen im späten 19. Jahrhundert emanzipierte Frauen selbst an die Kugeln und schmückten die teils stattlichen Bäume.

Weniger mutigen Frauen, im 19. Jahrhunderts dennoch ebenso rasch von der Mode des Weihnachtsbaumes infiziert, blieben andere Formen der Annäherung. Sie schneiderten Kostüme im Weihnachtsbaum-Look oder dekorierten sich gleich selbst als Baum; eine der viele verrückten Spleens der Viktorianer, die uns heute meist nur ungläubig staunen lassen.






Das letzte Bild zeigt meine bereits erwähnte Urgroßtante Eustachia, die hier wieder keck ihr berühmtes drittes Bein überschlägt.

Damals wie heute galt die mechanische Eisenbahn - ihr großes Vorbild war soeben erfunden und repräsentierte den Fortschrittsglauben der Gesellschaft und die beeindruckende Kraft der Dampfmaschine - als ebenso repräsentatives wie entspannendes Zubehör zum Weihnachtsfest. So schnaufte und quietschte die Blecheisenbahn unermüdlich um den Baum oder quer durch die gute Stube.





Eine kulturgeschichtlich wichtige Entdeckung aber liefert das letzte Bild. Zu lange herrschte die Sage, dass unser Bild vom "modernen" Weihnachtsmann durch die Reklame eines Getränkekonzerns in den 1920er-Jahren entstand. Dabei ist die charakteristische Weihnachtsmütze viel älter und bereits zu viktorianischen Zeiten gut tradiert.