Samstag, 15. Juni 2019


Familienalbum #1



Wer hat sie nicht auf Lager, die guten alten Familiengeschichten. So mancher aufnotierte Schwank sorgte zuletzt ja für etwas unschöne Furore über Blogs hinaus, darüber aber möchte ich nichts sagen. Ich will doch lieber selbst ins Fotoalbum und auf meine Wurzeln schauen, denen kann ich wenigstens vertrauen, wenn es stimmt, was ich in jungen Jahren hörte. Schon als Kind nämlich (später wurde das anstrengend) lauschte ich gern aus meiner von den Erwachsenen bald vergessenen Kauerhaltung unterm Wohnzimmertisch mit seinen sieben Decken den likörchengestärkten Erzählungen von Tanten und Onkel über die beeindruckend weitverzweigten, äh, Zweige des Familienstammbaums. Eines kann ich verraten: Es ist ein langer und gewundener Fluß von Erzählungen und Anverwandten, armen Bauern und toten Soldaten, kinderreichen Müttern und abenteuerlustigen Auswanderern.

Darunter war immer wieder mal die Geschichte von Uronkel Waszlaw Barenczow, der in die ostpreußische (streng genommen aber "westpreußische") Linie meiner Mutter zu zählen war und der um 1910 als Eisenbieger auf Jahrmärkten in seinem Dorf zu einiger Bekanntheit kam. Er galt als stärkster Mann der Umgebung, selbst in Danzig, und das ist sicher eines dieser Likörchen, also Histörchen der Familie, hatte man angeblich von ihm und seinem stattlichen Schnurrbart gehört. Oder umgekehrt. Soweit ich es als Kind verstanden habe, arbeitete er wohl in der nahen Eisengießerei, wo er, so stelle ich mir das jedenfalls vor, irgendwann zum Biegen kann.




Die Spuren des guten Waslaw verliefen sich mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs aus der Familienlore - es hieß, ein reicher Kaufmann aus der Stadt habe ihn überredet, auf einem Kohledampfer nach Amerika zu reisen, um dort als Bieger und Boxer auf Wanderbühnen aufzutreten. Ich bezweifle, daß daraus etwas wurde, denn als ich letztes Jahr mit einem modernen Fugzeug nach New York (das ist eine große Stadt in den USA) reiste, um dort auf Bühnen aufzutreten, wurde daraus nicht viel (lange Geschichte, aber es scheint in der Familie zu liegen) und zweitens fand ich auch sonst keine Spur vom bärenstarken Uronkel.

Nur diese zwei Fotografien sind von ihm erhalten, aufgenommen in Danzig und wohl bezahlt vom ominösen reichen Kaufmann (oder, und das ist nach allem, was ich über das Schaugeschäft weiß, wahrscheinlicher, vom treuen, um nicht zu sagen, naiven Waslaw selbst) und dem Anschein nach als Cabinettkarten für die Karriere in Übersee gedacht. Ganz schmuck, finde ich, allerdings, und da bin ich ein wenig beschämt, ist er (berufsbedingt) wesentlich durchtrainierter als ich. Es soll mir daher ein Ansporn und Vorbild sein, denn ein kräftiges Erbe soll man schätzen. Die "37" jedenfalls habe ich von ihm, eines Tages möchte ich sie nicht nur schreiben, sondern sogar stemmen können.