Sonntag, 12. Juli 2015
Wer wie ich nicht auf ominöse Anspielungen und rückgratschwache "andere Leute sagen doch auch"-Verbalmarshmallows steht, der gehe zu Lydia Lunch. "Stick the needle in the eye", ruft sie ins Mikro, und schon donnert ihre Band los wie eine Bisonstampede. Schamanistische Ejakulationsmusik, dargeboten von Mama und ihren drei Lustsklaven, mit sprotzenden Gitarren und rollenden Drums herausgeschnitzt aus Lärmgewittern. Der Gitarrist (Weasel Walter von den Flying Luttenbachers) strahlt respektverlangende Gefahr aus, auf so eine gesunde, durchtrainierte Weise, so als wolle er sich nachher noch in einer dunklen Gasse prügeln. Nicht aus Aggression oder niederen Vorbehalten, sondern weil er diese überschüssige Energie loswerden muß. Eine pervers gesunde Kraft, anders als bei Rowland S. Howard früher, bei dem man nicht sicher war, ob nicht irgendwo noch eine Nadel aus dem klapperdürren Gestell seines schmächtigen Klappmesserkörpers herausbaumelte.
Die Lunch derweil hat nach zehn Minuten bereits Tonmischer, ihre Band und das Publikum zusammengeschissen. 100 Jahre schlechte Laune im Gepäck, eine freispielende No-nonsense-Politik, herübergerettet aus verschimmelten New Yorker Clubkellern der 80er-Jahre. "This Gun is Loaded" hieß nicht umsonst eines ihrer Werke, warum auch Drumrumreden und Herumeiern. Der polternde Lärm öffnet bald ein großes schwarzes Loch, in das Lydia ihr Publikum auf einen Ritt durch eine vermüllte Hölle mitnimmt - "Burning Skull", "Slow Burning", "Run Through The Jungle" sind die Stücke aus mehreren Jahrzehnten finsteren No-Wave, die munter dazu angeschlagen werden. Am Schlagzeug sitzt Bob Bert, einst bei Sonic Youth angestellt und nun als lärmgestählter Felsen in die hochprozentige Geräuschbrandung betoniert.
Eigentlicher Höhepunkt des Abends aber war zuvor John Parish, den großen Mann des britischen Musikgewerbes, den Meisten als musikalischer Partner von P. J. Harvey bekannt. Der macht seit Jahren auch Filmmusik, L'Enfant d'en Haut ist darunter vielleicht der bekannteste Streifen, und stellte nun ein Best-of vor. Das großartige Album heißt passenderweise Screenplay und läßt sich hier anhören. Live mit toller Band angenehm differenziert und ohne Mätzchen zu allerlei Projektionen vorgetragen, Gelegenheit für die ein oder andere Entdeckung - mir jedenfalls waren die Filme von Patrice Toye ("Rosie", "Little Black Spiders") bislang unbekannt. Es macht Spaß, solch entspannten, gänzlich unprätentiösen Musikern zuzuhören, fern davon, technische Defizite durch Lautstärke kompensieren zu müssen.
Von der Vorband würde ich das nicht uneingeschränkt behaupten wollen, die nervte mich bereits nach fünf Minuten, gleichwohl ihrem Kopf der Verdienst gebührte, diesen Abend überhaupt veranstaltet zu haben. Mir war es entschieden zu selbstverliebt, zu egozentrisch, zu aufdringlich. Immerhin: Am Schlagzeug, ich sag noch den halben Set hindurch, den kenne ich doch, saß tatsächlich Budgie, dessen Arbeit ich nach dem Ende der Banshees und der Creatures völlig aus den Augen verloren habe. Nie sah ich ihn vor so einem minimalistischen Drumkit, mit dem er dankenswerterweise immer wieder spielfreudig in das ausufernde Ansagegefasel seines Frontmanns hineingrätschte. Schön, daß es ihm offenbar besser geht.
(Der Abend war zudem eine Gelegenheit, die Fuji für die Konzertfotografie zu testen. Mittlerweile ist mir aus verschiedenen Gründen die Nikon zu schwer geworden, und als Reisekamera hat sich die wesentlich leichtere X-Pro sehr bewährt. Bei schwierigen Lichtsituationen in dunklen Konzerthallen allerdings stößt das System, vor allem mit dem 55-200, an (Geschwindigkeits-)Grenzen. Spaß macht sie trotzdem.)
Irgendwann dann durch die Nacht laufen zu irgendeiner Bushaltestelle, nicht irgendwohin, sondern heim. Gesumme im Ohr, alle Nerven durchgespült und neu elektrisiert. Letzte Fotos machen, ein paar Lichter. Run Through The Jungle. Jedermann sein eigenes Rettungsboot.
>>> Lydia Lunch Still Burning (live in Dortmund)