Dienstag, 26. März 2024


Hin und her in der großen Stadt


Mein neues kleines Motto: Über dem ZNIT

Als ich das Bahnticket buchte, war mir klar, dass es Streik (oder eine Naturkatastrophe) geben würde. Es blieb zum Glück beim Streik, so konnte ich einen dieser verflixten Alternativzüge nutzen, was - sitzt man tatsächlich im richtigen Wagen - ganz unkompliziert ist. Zuvor hatte mir noch ein jüngerer Herr geholfen, meinen Koffer in die Ablage zu wuchten. Aber, der Lohn der guten Tat war keiner, falscher Platz, weil bedenkenswerte Wagenreihung, und schon wurde ich weiter gescheucht.

Dann aber da, Schnellkurs Berlin, weitergescheucht in einen dieser Stadtteile. Wedding mit Deutschlandticket aber entspanntes Navigieren. Einfach in eine Tram, eine U-Bahn, ja sogar mit einem Bus bin ich gefahren. (Bus nur nach Anweisung.) Ringe, Zonen, Sprach- und Sachgebiete völlig egal. Kleine Pension ("looks a bit shady" - man spricht viel Englisch in Berlin) überm Orchideengarten, Blick in den Hinterhof auf Mülltonnen und Altflaschen, dafür aber ruhig. (Irgendwann fand ich auch das warme Wasser, das war aber reine & eigene Begriffsstutzigkeit. Härtet ab, und andere bezahlen für so eine unerbittlich eiskalte Wellnesstour viel Geld. Mein Haar formt sich zu Eiszapfen.)



Lust for Life: ein Berlinbild

Das Programm: Kurzes Hallo und long Welcome, Kaffeehaussitzerei unter Wiedersehensbedingungen (macht bekanntlich Freude) und Kaffeehaussitzerei unter Kennenlernbedingungen (macht bekanntlich Freunde), Absagen, Hinwendungen, dazwischen immer wieder Erschöpfungsnickerchen vorm Mini-TV-Gerät, daher auch rasch die Hälfte des Tourneeplans gestrichen. Nicht nur der Koffer war schwer, die Füße waren es auch.

Kleine Party in Charlottenburg. Von Kunst umhüllte Hausmusik, es spielen Geige, Klavier, Gitarre, es singt eine Dame aus Übersee. Um 23:00 Uhr klopft keine Polizei, man fängt ja gerade erst an, nimmt sich die Nacht und künstlerische Freiheiten und fordert mich nebenbei auf, das Gitarrespielen dringend wieder aufzugreifen. Fingermotorik, neuronale Verbindungen, alles muss trainiert werden. Wieder einmal stelle ich fest, dass Ermunterung sich viel erfreulicher anfühlt als Eingrenzung. Verzichte dennoch darauf, zum Ausgleich eines meiner beliebten Zwölfton-Kunstlieder zum Besten zu geben. Der Abend ist zu schön, und die U-Bahn fährt noch lange.


Verlockung mit dem Unterton einer Gefahr: Essen nicht vergessen!

Meine Idee, die Imbisswelt der Großstadt auszutesten, endet nach höchst unterschiedlichen Erlebnissen in teils auffällig obszön benannten Stuben an einer historischen Wurstbude an einem berühmten Platz. Vor der isst eine Familie am Stehtisch, bis sich die Teenagertochter abrupt abwendet und überraschend projektil die Blumenrabatte gelb-rosa färbt. Gleichwohl ich die Braterei nicht anklagen will und stattdessen die Möglichkeit einer Morgenübelkeit in den Raum stelle, waren damit Lust und Appetit vergangen. Auch hier aber, wie ich recherchierte, gilt wie an anderen solcher Plätze: Die Google-Rezensionen lesen sich höchst unterschiedlich, von hui bis pfui. Mahatma Glück, mahatma Pech, Mahatma Gandhi, wie es in einem Karnevalslied heißt.


Frühlingsanklang im Tierpark: Auslüften an Berliner Luft

Kurbadqualität haben vielfach die Kaffeehauspreise. Offenbar zahlt man - wie all überall - die während der Lockdowns nicht konsumierten Kuchenstücke nun mit jedem Backwerk zurück. Zu loben ist da der Schleusenkrug, ein für mich fast mythischer Ort, den ich nach jahrzehntealten, verschlungenen Geschichten um Irrungen und Versprechen endlich mal besuche. Man reagiert belustigt, als ich erkläre, wir seien jetzt in einem Stage Play. Besser, man holt sich klugerweise Kuchenstück für Kuchenstück im Leben alles auf angenehme Weise zurück. Ein fantastischer Tag also auch ohne Orchideengarten: Schwäne auf dem Landwehrkanal, freundliche Berliner erklären mir den Weg, der Schrittzähler auf dem Telefon spendet beständig frühlingshafte Herzchen.


 


Dienstag, 19. September 2023


Brüsseler Spitzen #2


Foto-Hotspot Brüssel: Stets steht jemand im Weg

Noch immer fehlt mir für das Konzept "Brüssel" die Zange, um die Stadt als solche zu ergreifen. Mein schon auf der Hinreise überpackter, schwerer Koffer - auf der Etappe bereits um das eine oder andere erleichtert - kehrte vollgestopft mit Widersprüchlichkeiten heim. Eine Stadt, in der liebliche Jugendstilmuster an Brut-Beton stehen, moderner Finanzprunk neben altem Barockprunk, mittelalterliches Kopfstein sich vor Bankentürmen pflastert, lässt sich schwer in Schubladen pressen. Mein Hotel (Notiz an mich: beim nächsten Mal bitte wieder Ferienwohnung) lag zentrumsnah zwischen dem Kunstberg mit seinen Museen und der berühmten Kathedrale St. Michael und St. Gudula (der Schutzheiligen der Stadt), was für einen ersten Besuch nicht ganz dumm war. Die wichtigsten Sehenswürdigkeiten hat man so als lahmender Fußgänger schnell beguckt - oder wenigstens erhascht. Denn in Brüssel gilt: Was auch immer man fotografieren will, es steht jemand im Weg (s. Abb. 1).


Brüssel: Männeken-Pis, Schutzpatron der Blasenschwachen, mit zeitgenössischer hl. Monstranz und moderatem Strahl

Insbesondere die international bekannten Nationaldenkmäler, wie der berühmte freimütig pinkelnde Knabe, der wirklich sehr klein ist, sind von Touristen umlagert. An Stöcken halten sie ihre Smartphone-Monstranz in die Höhe, um ein Foto vom kleinen Männchen machen zu können, Reiseführer erzählen derweil schlüpfrige Anekdoten vor kichernden Menschen, die ebenfalls schnell noch ein Selfie beim Wassersport machen wollen. An vielen anderen Plätzen dasselbe Spiel. Anders als das Männeken-Pis, läuft Brüssel einfach über. Man kommt darüber aber auch ins Gespräch. Eigentlich in dem Alter, in dem man für junge Frauen unsichtbar geworden ist, wurde ich immer wieder unerwartet von freudestrahlenden Asiatinnen angesprochen (wohl, weil ich fünf Kameras umhängen hatte), die mir mit "Can you take my picture, pleeeese?" ihr Smartphone in die Hand drückten und wie für einen Reisekalender vor Säulen oder pittoresken Wänden posierten. Allein deshalb ist es wichtig, mit der Entwicklung Schritt zu halten und moderne Kulturtechniken wie die Handyfotografie zu erlernen!


Wuppertal: Männeken-Pis, abstrakte Version "Heimwerker", mit ordentlich Druck

Insgesamt lohnt sich ein Vergleich mit der Zwischenetappe Wuppertal, eine Stadt die man auch Klein-Brüssel nennt. Ähnlich zerrissen und widerspenstig, retro-modern (was der einen Stadt ihr Atomium, ist der anderen die Schwebebahn) und oft auch rott - und beide mit imposanten Bankentürmen (gut, in Wuppertal ist es nur die Sparkasse). Auf das Wuppertaler Männeken-Pis, nicht weniger imposant, dafür abstrakter in der Ausführung, hat man bei für die Region typipschen Starkregen immerhin freie Sicht für eindrucksvolle Fotos. Touristen, die hier ein Selfie machen wollen, gilt es allerdgins erst noch anzulocken. (Liebe Stadt Wuppertal, hier braucht es eine interessante Backstory. Sprecht mich an!)


Brüssel: Bücherschrank mit Gravitas an Prachtbau

In Brüssel aber überall Kunst, Literatur und Musik: Es gibt die Fondation Brel, die sich dem Leben und Werk Jacques Brels widmet, ein ausnahmsweise nicht von Victor Horta, dem stadtbildprägenden Jugendstil-Architekten, entworfenes Musikinstrumentenmuseum, profan-sakrale Bücherschränke und Antiquariate, eine Klanginstallation mit Vogelstimmen in einem wirklich sehr kleinen Park, erstaunlich wenig Graffiti in der Innenstadt (aber auch erstaunlich viele Überwachungskameras), eine Theater- und Musikbühne im Königlichen Park, sogar surreale eScooter-Fahrten sind dabei.


Nahe des Magritte-Museums gibt es eScooter für geisterhafte Touristen im Schulze & Schultze-Look

Ansonsten sind auch hier die Dinger wie überall eine Pest, stehen oder liegen kreuz und quer auf Gehwegen - und haben noch nicht einmal ein Nummernschild. Eine EU-Verordnung wäre hier angebracht oder eine konsequente Verfolung durch das weltberühmte Detektivduo aus den Tim & Struppi-Comics.


Rockstars international - allerdings nur männlich - an einem Fachgeschäft für Schallplatten

Man spricht übrigens viel Englisch in der Stadt, was teilweise auch zu einem verwirrenden Gemisch aus Französisch, Flämisch, Englisch und sogar Deutsch führen kann. Als Hamburger fragt man sich irgendwann, warum so viele Straßenbahnen nach Stade fahren, Homophonie ist halt ein trügerischer Freund. Selbst Weltliteraten haben hier viel aufgeschnappt. So kam Thomas Mann bei seinem Besuch in Brüssel einst eine wunderbare Idee für den Titel eines Familienromans.


Der Ursprung der Buddenbrooks wird heute oft fälschlich in Lübeck vermutet

Mit solch verwirrenden Eindrücken schleppt man sich abends dann müde zu Bett, wo sich bald im Traum allerlei floral gewundene Jugendstilmuster um einen ranken, Wasserfontänen aus kleinen Brunnen schießen (unbedingt schnell noch mal aufstehen!), asiatische Frauen mit Smartphones winken und Melonen-tragende Herren auf eScooter um einen herumkreisen.


 


Dienstag, 5. September 2023


Brüsseler Spitzen #1

In einem meiner Reiseführer steht sinngemäß, "Die Liebe zu Brüssel muss man sich erarbeiten", und als Experte für komplizierte Herzensangelegenheiten fühlte ich mich da natürlich sofort herausgefordert. Ein vielversprechendes Ziel zur Herzensbildung und hoffentlich auch Unterhaltung, dachte ich. Möglicherweise auch ein Experiment in Unterwerfung, denn diese Stadt hat mich ja noch nicht gesehen und präsentiert sich vielleicht ganz zauberhaft.


Brüssel: wo Altes und Neues als ständige Bruchkante aufeinandertreffen

Über Etappen gestreut (acht Stunden im Zug möchte ich nun wirklich nicht mehr sitzen, zumal dabei andere Menschen um einen herum sind) war die eigentliche Reise überraschend erträglich. Wagenreihung mal so, mal so, Verspätungen aber minimal, und selbst eine zum Wochenende aufgedrehte heitere Frauengruppe im Ruhebereich auf der ersten Etappe verabschiedete sich bierflaschenklimpernd recht bald ins Bordbistro. Dazwischen nur Landschaft, sobald man den flachen Norden erstmal verlassen hat. Fachwerk, Schiefer, Restgrau, gemischt mit Schloten und Industrieanlagen, also herzerwärmend, dann wird es hügeliger und talsperrenreicher - und zack, ist man in der Stadt mit dem Schwebebahnelefanten.


Brüssel: Selbst der Himmel ist hier wie mit einem Schnitt mit dem Küchenmesser zur Collage geteilt

Von Wuppertal aus sind es nach Brüssel gerade einmal zweieinhalb oder drei Stunden. Köln, Aachen, Lüttich, fettich. Ab der Grenze piepsen Mobiltelefone wegen Informationen zu Roaming, das Licht ändert sich merklich (belgische Sonne andere Sonne), die Architektur noch merklicher. Kurz der Gedanke, gleich bis Ostende ("Oostende") durchzufahren, Brügge, Knokke, knorke, aber das vielleicht beim nächsten Mal. Dann ohne Herbstjacke im Koffer, aber mit Badehose! (Koffer viel zu überladen, ich reise wie Lady Gaga.) Nun aber, am Nordbahnhof natürlich nicht auf der Schmuckseite, sondern zwischen Baustellen, olfaktorischen Problemzonen und flüsternden Genussmitteldienstleistern raus, dann hoppelhoppel mit dem Rollkoffer durch die Gluthitze zum Hotel, Navigation ist schließlich erste Pfadfinderpflicht. Unterschätzt habe ich das hügelige Gelände, denn Brüssel ist wie Rom oder Wuppertal oder andere Weltstädte auf solchen gebaut. Ich sag' es gleich: Wer nicht Wuppertaler oder Römer ist, lacht hier nicht. Es gibt ein oben und ein unten, ein alt und ein neu, eine Sprache und eine andere Sprache, und entlang dieser Brüche hangelt man sich durch.


Follow the Money: Finanz- und Verwaltungstürme stehen wuchtig im Weg

Man bekommt aber gleich einen Eindruck von Dimensionen, dem Sound einer Stadt und seiner Lautstärke, den Ideen, was "Gehwege" sein sollen (immerhin bewegen wir uns hier im Zentrum der EU und ihrer Verordnungen) und den opaken Wegen der Geldströme. "Follow the money", heißt es und auch ein Grund, weshalb ich und meine Maggie-Thatcher-Handtasche überhaupt dort waren, aber auch hier eine gewisse Sperrigkeit: Aus Gründen konnte ich im Hotel nicht mit meiner Kreditkarte zahlen, es wurden also Wege und Ideen entwickelt, um die Summe bar (es lacht!) und NFC-Funkwellentechnologie (modern!) zusammenzukratzen, während mir im Nacken eine Mischung aus Angst- und Hitzeschweiß, Debit und Kredit genannt, und allgemeinem Unwillen zusammenlief.


Dämmern in der Stadt floral gewundener Träume: Fenster zu Höfen

Endlich aber Rast. Gedankensammeln, Fernsehprogramme kontrollieren, Fensterblicke riskieren und kleinen Gang durch die Gemeinde planen.


 


Montag, 28. August 2023


Ein Ausflug mit der Bahn



Obzwar ich bereits einige Tage wieder daheim bin, also in Hamburg, einer großen Stadt im Norden, muss ich mich noch ein wenig sammeln. Über einige Etappen hinweg war ich ja verreist mit der großen Bahn, und aus meinen Reisetagebüchern geht hervor, dass Wer eine Reise tut, kann etwas erzählen. Dieser oft gehörte Spruch ist immer wieder wahr, wie jeder Aufenthalt im "Ruhebereich" eines Großwaggons vermittelt. (Ausriss)



Zu den weniger bekannte Ursachen für eine verspätete Abfahrt gehört übrigens die Dokumentationsfotografie, wenn insbesondere ältere Männer mit ihren übergroßen Koffern (in meinem Fall) oder mitgeschmuggelten Exotika (Skiern, Bassgeigen, Oktopusse) wegen der langen Belichtungszeiten der Plattenkamera für Verzögerungen am Bahnsteig sorgen. Immerhin kommt man ins Gespräch. So erfuhr ich von dem anderen, mir ansonsten unbekannten, Fahrgast, dass Oktopusse, sofern sie in den Koffer passen, als Handgepäck zählen und nicht im Gepäckwagen untergebracht werden müssen. Eine Information, frisch auf Reise gesammelt, die dem ein oder anderen vielleicht nützlich sein könnte.



Im Hotel (ich spare jetzt Abenteuer auf Zwischenetappen aus) wurde ich sehr freundlich empfangen, selbst als mir eine Dame des Hauses blumenreich und bedauernd erklärte, dass ich mit dem zwar 150 Jahre dort verwahrten, aber frisch aus der Schatulle entommenen Bargeld nicht bezahlen könne (das Konterfei unseren lieben Kaisers bürgt nicht mehr für Kredit), und auch die mitgeführten Empfehlungsschreiben der kaiserlichen abentürlichen Gesellschaft, die mich als "Master" auswiesen in dieser Hinsicht keine Hilfe wären. Was sind das nur für Zeiten! Am Ende fanden wir aber eine hier nicht ausführlich zu deklarierende Lösung und ich konnte mein Zimmer beziehen.



Dort gab es zum Glück ein Radioempfangsgerät, so dass ich tatsächlich Nachrichten aus der Heimat und auch die Hörreportage eines Fußballspiels verfolgen konnte. Ausriss: Aus der Heimat erreichen mich ferne Klänge über politische Klage, Nachrichten das Wetter betreffend und auch eine Übertragung eines Fußballspiels, bei dem es am Ende einen Sieger gab. Wunder des Äthers! Man reist über hunderte Kilometer und bleibt doch mit der Heimat verbunden! Es müsste so ein Gerät für "immer dabei" geben.



Details folgen noch, bin jetzt erst einmal damit beschäftigt, einige Unordnung, die durch Staub und ein paar kleine Hausspinnen, die wegen der großen Hitze in die Wohnung geflüchtet sind, entstanden ist zu beseitigen. Dem müden Wanderer winkt keine Rast, heißt es. Und es stimmt. (Ausriss) Werde noch Ergänzungen in meinen Reisenotizen vornehmen und und sofern es mit meinen Terminen kommodiert, noch das ein oder andere Unerhörte berichten.


 


Mittwoch, 5. Oktober 2022


Life is hard. And then... it get's harder



Supermarktjäger und -sammler haben in den letzten Monaten den ein oder anderen Schrecken verspürt. Meist unten am Regal, wo die ehemals kleinen Preise sind, von denen man aber wie bei länger nicht gesehenen Kindern aus der Verwandtschaft sagen musste, "Mensch, seid ihr groß geworden". Dingdong, die Inflation ist da. Manch einer kauft kein Rindersteak mehr, sondern nur noch Pilze, um den Proteinbedarf zu decken. Die nächsten quetschen ihren Kaffee aus selbstgesammelten Eicheln oder Zichoriegewächsen, nicht umsonst "die gemeine Wegwarte" genannt, ihres sperrigen Geschmacks wegen.

Wohl denen, die ihr eigenes Stück Land bewirtschaften, Tomaten und Zucchini ziehen, Bohnen, Erbsen und Kartoffeln. Selbstversorgung statt Supermarkt und ein bisschen Ruhe obendrein klingen toll, die neue Genügsamkeit statt lang geübter Wohlstandsuhlerei lockt immer mal wieder Menschen ins Abenteuer Überleben. Wie dieses Paar auf Vancouver Island in British Columbia, das "off the grid" und losgelöst in ihrer eigenen Wirtschaftszone lebt. Die Tänzerin Catherine und Wayne, ein Holzschnitzer, haben sich in 27 Jahren eine künstliche Insel geschaffen, ein amöbenartiges, Verzeihung, ausuferndes Gebilde mit zahlreichen "Scheinfüßen" auf schwimmenden ehemaligen Trägern einer Fischfarm. Das Ganze ist stabiler als es scheint, aber immer noch regelmäßiger Leiderfahrung ausgesetzt. Die Winter sind hart und die Stürme zerstörerisch.

"We just consider that storm damage as part of our life-style", ist die über die Jahre gewachsene, sehr sympathische Maxime der beiden. Was will man auch machen? Improvisieren und immer weitermachen. Tanzen auf der kleinen Tanzfläche vielleicht, Holz schnitzen im Atelier oder eben Gemüse züchten in den verteilten Gewächshäusern. Seltsamerweise halten sie keine Bienen, die ihnen wertvollen Algenhonig liefern könnten, aber da warten sie sicher nur auf Menschen aus dem Internet, die ihnen das erklären. Erstmals wurde ich in einer kurzen Doku im deutschen Fernsehen auf die beiden aufmerksam. Der kurze Beitrag stammte wohl aus demselben Drehmaterial, enthielt aber auch launige Bekenntnisse wie "Sometimes I just want to throw him overboard" oder "She's got plants everywhere. She's a dancer, she can move here, but I can hardly put my foot". Sieht bei denen wenigstens manchmal also auch nicht anders aus als bei anderen Paaren. (Ich persönlich kenne so etwas nur vom Hörensagen.)



Da ich von Beruf ja Nachahmer bin, habe ich umstandslos über so ein eigenes Inselprojekt nachgedacht. Auf dem Hudson vielleicht, dann könnte man am Wochenende vielleicht mal nach New York City (das ist eine große Stadt in den USA), um eine Ausstellung zu sehen oder ein Konzert zu besuchen oder irgendwo was essen gehen, denn meine Kochkünste sind nicht so groß. Als Deutscher habe ich allerdings das Prinzip "Sicherheitsbedenken" verinnerlicht, kann also nicht einfach loslegen, sondern muss zunächst über Jahre üben und alles durchdenken. Mein Drei-Schritte-Programm lautet daher: erstmal ein Gewächshaus bauen, dann auf dem Kanal vor dem Haus die Schwimmfähigkeit testen, dann erst Fischfarmen abtelefonieren. Ein Gewächshaus habe ich jetzt, das ist sogar recht charmant und wird mir ganzjährig Rosmarin und vertrocknete Sträucher bieten.

Im nächsten Schritt muss ich den Kanal besiedeln. Hier spielt ein Aspekt in meinen Plan, den auch Wayne aus dem Video angesprochen hat. Gärtner kennen ja den Spruch, die Leute sehen nur das Beet und nie den Spaten. Der verlockende Sparplan "Selbstversorgung" wird nämlich mit reichlich Arbeit gefüttert. Auch wenn man Catherine und Wayne abends auf ihrem kleinen Strand in der Sonne sitzen sieht, der Tag bis dahin, war wohl eine ziemliche Plackerei. Ständig muss etwas getan werden, geht etwas kaputt und muss repariert werden, spielt einem das Wetter einen Streich, geht das Geld zur Neige, während das Bilgenwasser steigt. Wayne zitiert seine Mutter, eine Flak-Schützin im zweiten Weltkrieg (wenn ich es richtig in Erinnerung habe), die ihm verriet: "Sunshine, life is hard. And then... it get's harder."

Lummerland macht Arbeit, könnte man sagen. Weshalb die beiden, Zeit für einen Schmunzler hier zum Schluss, auch keinen Platz für Ponys haben.


 


Dienstag, 17. August 2021


Betrachtungen aus dem Rheinraum



Neulich war ich im Rheinland, hauptsächlich - when in Rheinland, do as the Rheinländer do - um Gespräche zu führen. Der offizielle Teil war schnell und gut organisiert zu Ende, das Ergebnis ebenfalls erfreulich rasch gefaßt, dann hat man den Kopf frei und reduziertes Gewicht. Bei Freunden sehr entspannt gegessen, geplaudert, zahlreiche Details um Haus und Hof bewundert und den besten Schlaf seit Jahren gehabt: im ehemaligen Dienstbotenzimmer. Fantastisch, fünf Sterne. (Sofort den Plan gefaßt, mir in meiner Wohnung ein ebensolches Zimmer einzurichten, für wenn mal Dienstboten kommen schwer Schlaf zu finden ist.)

Düsseldorf bleibt vertracktes Gelände. Es gelingt mir seit Jahren nicht mehr, dort Ausstellungen zu besuchen. Noch immer denke ich wehmütig an die Jean-Tinguely-Ausstellung zurück, die ich wegen irgendwas verpaßte. Nun war es Schlingensief, die von Besucherschlangen und Querdenkerdemos umwunden war wie einst Dornröschens Schloß. Oder besser: wie der unerklimmbare Felsen der braven Lorelei, die dann augenzwinkernd vorbeifuhr. Dafür erneut entspannt gegessen.

Besichtigungen dann auf der kurzen Heimatrunde, überall Flutberichte, Zukunftsgedanken, Impfstatusvergleich. Auf der Rückfahrt wieder zähes Waggongekoppel in Hamm, Westf. Die Rücklichter von Anschlußzügen im geisterhaften Hannover. Die Einsamkeit nächtlicher Bahnsteige, und ein Taxifahrer, der außer "Moin" nichts sagt. Wieder daheim.


 


Donnerstag, 8. Juli 2021


Landungsbrücken raus



Was das Thema Verreisen angeht, bin ich ja ähnlich unbeholfen wie eine Fußballmannschaft, die - immerhin! - im Achtelfinale ausscheidet. Die Fehlpässe und verlorenen Zweikämpfe, die ich in vielen, vielen Jahren in dieser Hinsicht ausgetragen habe, lassen sich in kaum einer Datenbank erfassen. "Daheimreisender" könnte auf meiner Visitenkarte stehen. Jetzt aber hatte ich zufällig eine Tageskarte für den Nahverkehr, wollte mal was anderes sehen und sogenannte "Eindrücke" sammeln und landete so und über Umwege neben Hamburgs traurigstem Kinderkarussell. Keine Fahrgäste (fuhren vielleicht alle daheim Karussell) und dazu endloses Schlagergedudel mit nur mir als einzigem Zuhörer. Wie weit kann es nach unten gehen, frage ich. Die Schlager waren offenbar B-Seiten-Titel bekannter Interpreten wie Peter Alexander, Roy Black und Marianne Rosenberg, nicht die Hits. Schräge Texte mit Zeilen wie "Dir fällt nicht auf, daß ich dich nicht mehr brauche" (aus dem Gedächtnis zitiert). Vielleicht zeitgemäß, denn es gibt so vieles, was man echt nicht mehr gebrauchen kann.

Ich saß also auf einer Treppe in der Sonne (Bänke gibt es dort nicht, denn sitzen soll nur, wer auch konsumiert) neben meiner in Kolumbien genähten Ledertasche, darin mein Weltmeisterbrot aus dem Lockangebot für nur 2,49 Euro, und sah mir die promenierenden Leute aus Holland und Wanne-Eickel an. Fährt man nicht in die Welt, kommt die Welt zu einem! Einfach am großen Fluß sitzen bleiben, es treiben am Ende alle vorbei. So wie dieser Aal, der einen Kugelfisch schlucken wollte. Witzigerweise gilt der Kugelfisch als recht aufgeblasener Geselle, hier aber verhalf es uns zu einem anschaulichen Bild über Gier und mangelnde Demut. Den Hals nicht vollkriegen können, ein Rendite-Aal, der sich an einer aufgepufferten Blase verschluckt. Wohl dem, der Strandspaziergänge machen und derart Gott und seine Botschaften aus der Natur lesen kann!

Ich könnte als "Mann von der Ebe" weiter so in salbungsvollen Gleichnissen reden und mir das gut bezahlen lassen. Auftritte als #EwaldLienenUltra bei Lanz und den norddeutschen Regionalprogrammen, kleines Büchlein dabei und ein Coaching-Angebot, bei dessen Ende ich sagen kann, seht ihr, ihr braucht mich gar nicht!


 


Montag, 19. April 2021


Endlich ans Steuer!


Der Belotti (Foto von Belotti Motors)

Mein Leben habe ich bislang als geübter Beifahrer geführt. Zwar besitze ich einen Führerschein, hatte aber nie den Drang, ein Auto zu besitzen. Ich kann halt Karten lesen und Getränke öffnen, dazu adhoc Routen entwerfen - die Welt aus der Sicht des Nebensitzes ist erlebnisreich genug. Da trifft man auf Fahrer:innen, die ungern geradeausfahren. Sagt man, fahr einfach geradeaus, wird urplötzlich - gerne flott - nach links ab oder rechts abgebogen. Fragt man freundlich interessiert W1ESO?!?, dann ist da ein Schild! gewesen oder ein dachte ich, die selbstredend gut begründete (Schleichweg! das Dorf mit dem lustigen Kirchturm! der Plan war doch!) Geradeausfahrt jedoch beendet. So aber lernt man Flexibilität.

Oder Fahrer:innen, die mit dem Blut Emerson Fittipaldis betankt sind, mit Gaffa-Tape zusammengeflickte Autos fahren, diese aber sehr schnell, vielleicht noch fluchend und schimpfend über andere Mobilisten, so daß man mit den Händen vor den Augen im Sitz kauert, schwitzt, Ave Marias und "Der Herr sei mein Hirte" vorwärts und rückwärts deklamiert sowie edukative Mahnungen und am Ende seinem Herrgott auf Knien dankt. Schicksalsergebenheit verzeiht dabei vieles, man kommt schließlich rum, und das auch noch rasant. So aber lernt man seinen Hut festhalten.

Als Beifahrer jedenfalls fühlte ich mich im Leben oft wie Cary Grant, was auch der Titel meines Debütromans sein könnte. So aber lernt man Gelassenheit.

Jetzt bin ich erstmals interessiert, selbst das Steuer zu ergreifen und ein Auto zu besitzen. Die Schweizer Firma Belotti Motos hat nämlich einen Prototypen vorgestellt, der in Einfachheit und Form faszinierend ist. Retro-nostalgisch, von der Gestaltung zwischen Seifenkiste und Fahrrad, mit ausreichend Platz für Beifahrer und Picknickgepäck. Die (elektrisch erreichte) Höchstgeschwindigkeit liegt bei sicherheitssensiblen 20 km/h, als Hupe erwarte ich eine Blechtröte wie bei der Walton's Family, und die Scheinwerfer werden hoffentlich durch Retromodelle wie am Hollandrad ausgetauscht.

Wenn man überlegt, daß 120 Prozent aller Autofahrten reine kurze Stadtfahrten sind, muß man sich ja eh fragen, wieso nicht alle solche platzsparenden Modelle bewegen statt tonnenschwerer Stadtpanzer. Gemüsekiste, Karton mit sechs Flaschen Wein und ein viel versprechender Kopf Brokkoli passen garantiert hinten auf die Ladefläche. Drei Topfpflanzen und ein Beistelltisch vom Ikea sicher auch. Oder ein Hundetransportkäfig für den Weg zum Tierarzt. Oder eben Schlauchboot und Schlafsack für die Fahrt zum Nordkap. Autofahrer in Hamburg rasten allerdings ganz sicher aus, wenn man damit wie mit zwei Fahrrädern nebeneinander vor ihnen durch die Stadt juckelt. Gute Nerven und gute Gebete braucht es also weiterhin. So lernt man eben das Leben als Fahrer begreifen.

>>> Geräusch des Tages: Motoren-Sound sehr alter Schule


 


Samstag, 20. Februar 2021


Shake Dog Shake



Auf meine alten Tage plane ich ja, nun endgültig Privatier zu werden, ich meine, was soll der Mist, tagein, tagaus usw. Dann gleich ein Leben zwischen Sardinen und Brot und einer aus Pappkarton gemalten schwarzweißen Katze, die neben meinem Sofa hockt und mit einem ebenfalls aus einem Pappkarton geschnittenen Fisch an der Angel bespielt wird. Der Freude und stillen Einkehr wegen.

Manchmal aber packt mich noch das innerlich erloschene Feuer, und ich schwinge mich in grünes Jägerloden und derbe Hosen, um einen Leihhund auf die Freilaufwiese zu führen. Rebellen ohne Steuermarke! gröle ich, der Hund juchzt infantil Ball! Ball! Ball! und wirft mir 40 Kilo durchtrainierte Muskelmasse entgegen, ich schwanke nur wenig, denn ich bringe doppelt so viel nur geringfügig weniger trainierte Masse auf die Waage. Wir fletschen Zahn an Zahn, entdecken das innere Ungetüm in uns, Höllenfeuer, ich bin Wolf und du bist Wolf, und hey, das ist ok so.

Meine Würfe - knapp über Kugelstoßweite, dann erstmal warm geworden ein paar Zentimeter weiter - treiben einen Zerberus über das Gelände, den Ball mit schweigendem Ernst mit einem Kopf fangend, mit den beiden anderen links und rechts andere Hunde abwehrend. Ich dabei mit Seemannspfeife ein Orchester aus zähnefletschenden, fährtensicheren Stöberern dirigierend, ein Muskelballett zur Meutenmusik. Erich von Strohheims Reitgerte stünde mir gut und ein Monokel, vielleicht ein Megaphon.

Ordentlich eingesaut nach naturnaher Arbeit, Erde mannshoch, besabberte Hände vom Ball und zähem Ringen mit Knüppeln und Beute, habe ich Schamanenkontakt zum besten Totemtier des Menschen. Ich möchte mir die Fellkleidung vom Leibe reißen und mich überall mit Blut und Matsch einreiben, behalte aber hanseatische Restwürde und lasse mir nichts anmerken. War ok, sage ich also, lasse den Hund aus meiner Wasserflasche trinken (Tiere zuerst!), schüttel mir Zeug aus dem Haar und trotte zurück zum Haus. Geht doch.


 


Sonntag, 9. August 2020


DingDong


Vorher

Während ich gerade laid off bin, dabei aber wenig laid back, denke ich stundenweise über neue Gedanken nach. Heute gegen Mittag (Temperatur innen wie außen ca. 31 Grad) fragte ich mich, warum es eigentlich keine App gibt, mit der ich in Echtzeit die Position des Eiswagens, der hier immer laut klingelnd durch die Gegend fährt, verfolgen kann. Damit ich - ebenfalls laut klingelnd - mit dem Fahrrad rasch dorthin fahren kann.


Mittendrin

Im Vorgriff auf die erste Million, die ich mit meinem Start-up (Projekttitel: Es gibt Eis, Baby! - und ja, das ist diesmal wirklich eine Anspielung auf Helge Schneider) verdienen werde, habe ich mir eine neue Kingel gekauft. Die alte war so eine chinesische DingDong-Glocke, die aber ein störrisches und vor allem wackliges Eigenleben entwickelt hatte und bei jeder Erschütterung losklingelte, selbst als ich die Verschraubung der Glocke neu justiert hatte, damit sie strammer sitzt. Ich habe es schon im Muskelgedächtnis meiner linken Hand, während der Fahrt nämlich die Glocke fester oder loser schrauben. (Zu fest, heißt hier erstmal nicht "ab", sondern "stumm".)


Nachher

Um also dem Eiswagen folgen zu können, braucht es zunächst eimal einen neuen Ton, den ich ab heute anschlagen möchte. Zugleich habe ich mein Dreieck größer aufgezogen auf die Eckpunkte Köln/Düsseldorf - Berlin - Wien, nachdem ich im Frühjahr bereits über Relocation im kleineren Maßstab nachdachte. Leuchttürme gibt es schließlich überall, und Eiswagen auch. Einfach mal - DingDong - wach und munter werden. Weil so viele Männer in meinem Alter mit Fahrradprojekten beschäftigt sind, habe ich mich endich mal altersgemäß verhalten und selbst ein wenig geschraubt. Alte Klingel ab, neue draufgesetzt (muß noch ein wenig justiert werden) ging ganz schnell. Wer clever wie ich ist, läßt die neue zwischendrin kurz mal aufs Pflaster fallen, dann hat die gleich Patina und schaut aus als gehöre die seit ewig zu mir. Gewußt wie! Nur mein Muskelgedächtnis muß ich noch umtrainieren. Das Rumfummeln an der Kingel während der Fahrt ist unbewußt noch drin. Pling!