Sonntag, 29. Oktober 2023


Rundgänge



Jedes Jahr dasselbe Spiel im Tourneeplan. Ende des manchen goldenen, anderen schon spukigen Oktobers ("Spooktober") heißt es, alle Fäden zusammenhalten, Nerven auch, Mitternachtsklingklong, wer hätte das gedacht und schon wieder eine neue Zahl, die man sich für Nachfragen merken muss ("37plus"). Das Entrée in den neuen Lebensabschnitt war öffentlich-rechtlich angemessen. Gezeigt wurde vom Bayerischen Rundfunk spät in der Nacht der Film "Das Omen" (1976). Darin geht es passenderweise um die Geburt eines Sohnes, dem von den Eltern böse mitgespielt wird (Vater verbietet ihm z.B. einen Hund). Am Ende muss die Polizei eingreifen und - ich spoiler hier mal - der Junge kommt doch noch in gute Hände. Da wird man schon nachdenklich, wie es mir bei Filmen durch Über-Identifikation aber öfter passiert.



Am Tag dann ein Ausflug zu einem von Hamburgs weniger bekannten Museen. Das auch von mir lange und vielleicht etwas hochnäsig umgangene "Medizinhistorische Museum" auf dem Gelände des Universitätsklinikums hat sich über die Zeit zu einem echten Schatz gemausert. Betreut von überaus freundlichen Menschen (vom Fach) beherbergt der hübsche Backsteinbau neben der ständigen Sammlung auch größere thematische Schauen und Wechselausstellungen mit korrespondierender Kunst.



So erfährt man im Prunkstück des Museums, dem liebevoll restaurierten großen Sektionssaal aus den 1920er-Jahren, einiges über die Geschichte der Seuchen bis hin zu Corona. Neben vielen Dokumenten, Schaubildern und -stücken sind auch popkulturelle Augenzwinkereien dabei. So eines der berühmten "#TeamDrosten"-T-Shirts und eine Actionfigur von Dr. Fauci.



Klug und in ihren Untertönen ähnlich unaufdringlich gestaltet sind auch die Räume der Dauerausstellung. Der Raum zur Geschichte des Arztberufs ist ganz selbstverständlich übertitelt mit "Ärztin werden", darin sind für sich sprechende Schautafeln ausgehängt, die das Ungleichgewicht der Geschlechter bei Studium, Promotion und Habilitation zeigen. Eine feine Klinge oder besser Skalpell, das hier geführt wird. Die Sammlung technischer Geräte ist ebenfalls beachtlich: Neben einer fast frivol elegant anmutenden Eisernen Lunge (ein Schwestermodell steht in der Sammlung Virchow in Berlin) gibt es eine Vielzahl von Mikroskopen, Röntgenröhren, Durchleuchtungapparate und Labortechnik zu sehen. Selbst ein berüchtigter Durchleuchter ist zu sehen, wie er früher in manchen Schuhgeschäften stand und mit dem man sich "mal eben" unbefangen die Füße röntgen lassen konnte. Natürlich "bedenkenlos", wie es mit moderner Technik du Jour eben so ist.



Anders als in den medizinischen Sammlungen etwa in Wien oder Berlin sind hier in der ehemaligen Hamburger Pathologie keine Nasspräparate pathologischer Eigentümlichkeiten ausgestellt. Ein Herzstück aber sind die Moulagen, also Nachbildungen aus Wachs, wie sie bis heute in der medizinischen Ausbildung benutzt werden. Wer als Schüler:in noch die Lehrfilme der FWU ("Institut für Film und Bild in Wissenschaft und Unterricht") erinnert, kann hier noch einmal die verschiedenen Stadien der Syphilis ("Kehrt zurück!") studieren und mit den unwillkürlich kribbelnden Flecken auf dem Handrücken vergleichen.



Lobend erwähnt sei auch der Umgang mit den dunklen Seiten von Medizin und Forschung insbesondere während der NS-Zeit. Die Biographien von Psychiatern wie etwa Hans Bürger-Prinz (hier ist auch ein Porträt von Conrad Felixmüller zu sehen, das die Stadt 1967(!) als Ehrung in Auftrag gab), die ungehindert über wertes und unwertes Leben entschieden und nach 1945 am UKE schnell wieder als Koryphäen ihrer Wissenschaft etabliert waren, wird ebenso Raum gegeben wie zu erschütternden Schaustücken gewordenen Karteikästen mit den Patientendaten aus Lagern und Psychiatrien.



Mit Einzelstücken unter anderem angenehm beiläufig in die Sammlung integriert und dazu in zwei weiteren Räumen präsentiert ist derzeit (bis zum 7.11.) die Ausstellung "Venusmaschine" von Kirsten Krüger. Anatomische, surreal verfremdete Objekte und Skulpturen und traumhafte Installationen wie das "Ameisenzimmer" finden hier einen idealen Ort und lohnen alleine schon den Besuch.



Ein schönes Geschenk, bei dem man viel lernt, sich ergreifen und begeistern lasen kann. Und Postkarten kann man vor Ort auch erwerben!

>>> Webseite des Medizinhistorischen Museums, Hamburg


 


Mittwoch, 19. Juli 2023


Der kleine Kunstausflug


"Würstelinsel". Installation von Hanna Naske. 2023.

Am Wochenende waren landauf, landab Diplomausstellungen, Akademierundgänge, Graduation Shows und wie sie an den Kunsthochschulen so heißen. Ich packte also meinen Zweig, den ich nun als Erkennungszeichen für musikalische Waldklaubereien immer bei mir trage (manchmal ist ein Zweig wie ein guter Freund, knorrig vielleicht, aber verlässlich) und machte mich auf den kleinen Spaziergang am idyllischen Kuhmühlenteich und der hübschen Backsteinkirche St. Gertrud vorbei zur Hamburger HfbK. Dem erschöpften Wanderer winkte gleich im Foyer der Lohn: ein fast waschechter Würstlstand, installiert von der Wiener Künstlerin Hanna Naske. Na, servus!



Kaffee, Kuchen, Barbetrieb, das diesjährige Ambiente setzte auf vielfältige Kost und natürlich auch Kunst. Ein guter Jahrgang mal wieder, wie ich fand. Viel Doppel- und Mehrdeutiges, Anschauliches, weniger Konzept und Kopf, dafür Traum und Besinnung, Verschlüsseltes und Meditatives. So wie die Rauminstallation von Julia Nordholz, der man sich ein wenig hingeben muss. Ein Weißraum/White Cube gefüllt mit Trockeneisnebel und stetig heller werdendem Licht, dazu unwirkliche Klänge wie mit dem Geophon aus der Tiefsee gefischt. Tatsächlich sind es Field Recordings von Gletschereis, seinen Bewegungen und dem Knirschen und Knarzen der Schichten und Platten, dem Schmelzen und Brechen. Ganz toll, weil man hier seine Sinne konditionslos übergeben und sich im dampfenden Eisnebel orientieren muss (oder: besser nicht).



Eindrucksvoll auch die Arbeiten von Termeh Yaghoubi (Teheran) aus dem Artists-in-Residence-Programm: Folkloristisch versponnene, scheinbar naive Grafiken mit dunklen Untertönen. Und für Mutige bot die Installation von Joana Owona Gelegenheit, sich nicht unbedingt die Decke auf den Kopf fallen zu lassen, aber unter gewichtigen Steinen mit mindestens so gewichtigen, eingemeißelten Begriffen ("Weary", "Clarity") ein paar Schritte zu wagen. (Hielt alles fest.)



Ich werde für so was häufig gescholten: die private Wunderkammer mit soliden Fundstücken von der Straße. Rostige Nägel, obskure Werkzeuge, Skizzen und Papiere - Clara Bolotas Conjuring Shelfdesk schien mir magischer Altar und wissenschaftlicher Labortisch zugleich. (Schöner Account auf Instagram auch.) Interessant auch die Arbeiten von Wilhelm Meister, dessen "Lehr- und Wanderjahre" ihn zu (für mich verschlüsselten) technischen Zeichnungen und Konstruktionen gebracht haben. Ich hielt es zunächst für den Schaltplan von ChatGPT, lauter Nodes und kleine Formeln, wie in "Entwurf einer polarisierten Welt, 18" [Hier]. Ich hab's mir ganz kühn erklären lassen, und dann dem Meister meine Version präsentiert - ich weiß aber nicht mehr, wer am Ende recht hatte.


Blumen &Waschbecken I. 2023

Zur weiteren und heiteren Erbauung natürlich immer die fortlaufende Serie Blumen & Waschbecken. Zeugnisse der "night before" (Beatles), Gruß und Vergänglichkeit, Dekoration und Schaustehlung, oft üppig und barock.


Blumen &Waschbecken II. 2023

Manchmal auch einfach ganz schlicht - als Statementblume und Ligne claire im White-Cube-Ambiente. Ein schönes Treppauf-Treppab war's, gut für Herz, Beine und Kreislauf und langes Leben. Zur Stärkung ein Würstchen (leider habe ich vergessen, die Karte an der Würstelinsel zu dokumentieren. Marmeladinger-Witze über "Eitriges" fallen also (fast) aus).


 


Donnerstag, 13. Juli 2023


Schließ die letzte Tür



Als ich im *hust* letzten Jahrhundert begann, mich intensiver mit Fotografie zu beschäftigen, war einer meiner großen Vorbilder der US-Amerikaner Ralph Gibson [Webseite]. Seine formal strenge, zugleich poetische, teils surreale Bildsprache, oft in überraschenden Juxtapositionen oder traum-logischen Fragmenten und Ausrissen, erschien mir ein reizvolles Spannungsfeld für eigene Experimente. Außerdem stammte das berühmte Innencover von Joy Divisions Album Unknown Pleasures von ihm.

In den 90er-Jahren ging sein Stern in der öffentlichen Aufmerksamkeit etwas unter, das waren grelle, schrille Zeiten vollgestopft mit cross-geposteter Farbknallfotografie, flashigem Aufhellgeblitze und wilder Partyekstase. Es schließ sich aber alles in Zirkeln, und so ist es schön, dass die Hamburger Deichtorhallen eine mittelgroße Retrospektive wenn auch etwas versteckt im hinteren Bereich der Halle für moderne Kunst zeigen.

Es gibt also einen Querschnitt durch die berühmten Zyklen (bei Gibson als Fotobücher - wir reden über eine Zeit, als das Fotobuch gleich einer größeren musikalischen Komposition, etwa einer Symphonie, mit einer gewissen Gravitas daherkamen. Weil auch: teuer in der Produktion und im Preis). Darunter die berühmte "schwarze" Trilogie The Somnambulist, Déja-vu und Days at Sea, eng beschnittene, zugespitzte, nie zufällige, teils aber konstruierte "Postkarten" unbestimmter Traumreisen und Straßenfunde. Gibson (ein Schüler Dorothea Langes und Robert Franks) ist da heute noch vorbildlich. Wer den bekannten Spruch "Ist das Foto schlecht, warst du nicht nahe genug dran" nicht glaubt, kann in seinem Werk studieren, wie banalste Alltagsgegenstände in hart konstrastierende Licht- und Schattenfelder platziert plötzlich die interessantesten Geschichten erzählen. Das gilt auch für seine Akte, von denen viele zeitlos, einige wenige vielleicht doch ein bisschen geschmäcklerisch sind.



Die Präsentation der Bilder schwankt zwischen erzählerischen Reihungen, "St. Petersburg" hin zu Kachelung. Bei letzterer Anordnung tanzen zwei aus der Reihe. Das ist so gewollt, denn bei allem, was ich oben erzählte, fehlt eins: der Bruch, der Spalt, durch den bekanntlich (Cohen) das Licht fällt. Die Tür, von der man nicht weiß, ob sie sich öffnet oder schließt.

>>> "Ralph Gibson - Secret of Light". Hamburg Deichtorhallen. Noch bis zum 20. August 2023.

Flanieren | von kid37 um 17:33h | noch kein Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Freitag, 30. Juni 2023


Tiere am Abend



Wenn ich abends im oberen Zimmer des Leuchtturm sitze, vielleicht entspannt das Besteck mit Wiener Kalk poliere, während draußen leichter Regen auf das nur grob umbördelte Zinkdach tropft... kurz, also wenn es gemütlich wird, entlasse ich einen Gedanken in die Nacht, der dort sofort in einer Wolke von Hunderten von Fledermäusen explodiert, die hochfrequente Botschaften in die Welt hinaustragen. Wiiiii wiiiii, schwirrt es durch die Luft, aber ihr könnt das natürlich nicht hören, weil eure diskothekenverstumpften Ohren die hohen Töne nicht erkennen können. Und vielleicht ist das auch gut so.

Bleiben wir bei den Tieren. Wer sich für tiere interessiert und vielleicht auch obendrein noch für Fotografie, kann eine Entdeckung machen. Die Seite Muybridges Horses (eine Anspielung natürlich auf Eadweard Muybridge und seine frühen Aufnahmen von bewegten Körpern, darunter auch die von Pferden) ist eine von der Fotokünstlerin Emma Kisiel wundervoll kuratierte Sammlung von Fotograf:innen, die sich aus allen Perspektiven unseren nahen Verwandten genähert haben. Von A bis Z geordnet verbergen sich hinter den Links überraschende und oft berührende Fotografien (und gelegentlich Malerei), die weit über das hinausgehen, was man gewöhnlich an reinen Ablichtungen sieht. Und ja, es handelt sich um künstlerische Fotografie, und ja, manche dieser Tiere sind auch tot. Selten aber drastisch inszeniert, erwartet also keine Schlachthofszenen, eher behutsam oder auch nur nüchtern, manchmal anklagend, manchmal würdigend wie etwa bei den Sammlungen von Tierpräparaten in Museen. Meist aber stehen die Tiere rum, hängen in der Luft, erkunden die Zwischenräume zwischen Stadt- und Naturlandschaft, schauen nachdenklich oder einfach nur hungrig oder auch müde.

Seit Januar 2023 wird die seit 2009 gepflegte Seite leider nicht mehr erweitert. Aber auch so ist der Katalog beachtlich - wie ein Museumsbesuch, den man nicht an einem Tag schafft.

Im Morgengrauen haben sich die Fledermäuse in schwarze Amseln verwandelt, die lautstark und in hörbaren Frequenzen dann vom Tag singen. Bis ich sie erstmal wieder zu einem unwirschen Gedankenball zusammengeknüllt habe.

>>> Webseite Muybridge Horses


 


Donnerstag, 1. Juni 2023


Exzentrische 80er



Die frühen 80er-Jahre waren so exzentrisch, dass selbst ich fast exzentrisch geworden wäre dabei. Blitze schrill, Frisuren schräg, und alles elektrisch nervös. Um das alles auch durchdenken zu können, gab es in Hamburg die Buch Handlung Welt, die ich aber nicht kannte, weil ich da ja noch woanders wohnte. Hilka Nordhausens Laden in der Marktstraße aber war wohl Treffpunkt für Dichter & Denker (so flüstern mir Hamburger, die davon noch gehört haben). Da sich das jetzt zum 40. Mal jährt, gab es im April und Mai Rundgänge und Visitationen, Lesungen, Zusammensitzungen und eine Ausstellung.



Im Kunsthaus Hamburg konnte man das alles noch einmal nacherleben. Bis Ende Mai wurde hier die Ausstellung Exzentrische 80er: Tabea Blumenschein, Hilka Nordhausen und Rabe perplexum gezeigt, eine wilde Wiese aus Gemälden, Fotos, Videos, Zeug und zahlreichen Zeitungsausschnitten, Briefen und Dokumenten. Der Versuch einer Rekonstruktion. Mich interessierte vor allem Tabea Blumenschein, denn die war damals auch in meinen 80ern präsent. Zunächst in den Filmen von Ulrike Ottinger, die mit ihr avantgardistische Werke wie Madame X, Dorian Gray im Spiegel der Boulevardpresse und vor allem Bildnis einer Trinkerin machte und die damals sogar ab und an versteckt im Fernsehen liefen oder regelmäßig in den Programmkinos der Stadt. Blumenschein malte, schneiderte, besorgte die Bühne und war dann einige Jahre und anders als ich Mitglied der Kunstkapelle Die tödliche Doris.



Ein Berliner Leben zwischen Schrill und Schrull, Hochglanz und Obdachlosenheim, Theater, Kunst und Klanggewirke. Toll, leider auch schon tot. Blumenschein starb 2020. (Hilka Nordhausen und Performancekünstler:in Rabe perplexum bereits 1993 bzw. 1996.) Schön bunt und eindrucksvoll, man muss dem Kunsthaus danken.

"Exzentrische 80er: Tabea Blumenschein, Hilka Nordhausen und Rabe perplexum". Kunsthaus Hamburg, 25.3. bis 21.5.2023


 


Samstag, 20. Mai 2023


Ein Tag im Jupiter


Andrey Klassen, "Ich wäre gerne bei deiner Premiere dabeigewesen".

Ich bin ja begriffstutzig. Also, ich brauche meine Zeit, so heißt das wohl. Vor Jahren stand ich mal begeistert in Düsseldorf vor einer Eckkneipe, die hieß "Jupp + Pitter", und freute mich sehr über die sehr rheinischen Namen. Wenn man ewig und lange in Hamburg lebt, geraten ja sowohl "Jupp" als auch "Pitter" aus dem gebrauchsfertigen Alltag. Nun war das aber gar nicht der Witz, denn die Kneipe lag im sogenannten Planetenviertel und bezog sich augenzwinkernd auf den großen Gasriesen in unserem Sonnensystem. Da ist meine Gedankenrakete aber sprotzelnd ins Stocken geraten. Vielleicht liegt es auch an der hohen Rotationsgeschwindgkeit des Jupiter, das ich da nicht ganz mitkomme. Als das Karstadt-Sportkaufhaus in der Hamburger Innenstadt den Geschäftsbetrieb aufgab, wurde das Gebäude als "Artstadt" mit Kunst und Kultur weitergeführt. Ein Name, der den gut eingeführten ursprünglichen mitschwingen ließ, keine schlechte Idee. Nun heißt es seit 2023 "Jupiter", was ich zunächst galaktisch, aber auch wahllos hielt. Bis ich, eine Geschichte von der Banalität des Alltags, heute davorstand, hinblickte und herblickte und dann, es ist wirklich keine besondere Pointe, mehrere Groschen fallen hörte, denn gegenüber vom Jupiter befindet sich das große Elektronikkaufhaus "Saturn". Ich erzähle das auch nur, damit ihr das "Jupiter" findet, nicht etwa der Unterhaltung wegen. Also Richtung "Saturn", wie auf der Sternenkarte, aber dann gegenüber.

Die Etagen werden ganz unterschiedlich bespielt, da gibt es Cargo-Kunst und Treibholzmalereien, Rostskulpturen und allerlei Hafenmalerei, eine Etage zum Rollschuhlaufen am Wochenende, eine Rooftop-Bar, Gaming und Workshops und natürlich Kunst. Derzeit zeigen Hamburger Galerien ausgewählte Künstler in der ersten Etage. Auch Feinkunst Krüger ist vertreten und zeigt teils großformatige Tuschemalereien von Andrey Klassen. Versponnene Welten, mit popkulturellen Zitaten und allerlei Fabelwesen bestückt, mit nur angedeuteten Geschichten zwischen losem Amüsement und unterschwellig Verstörendem. Noch bis zum 31. Mai.



>>> Jupiter


 


Sonntag, 2. April 2023


Dämmerschlaf

Ich hege ja eine gewisse herzliche Verbundenheit zur Fabrik der Künste, die letztes Jahr nach dem überraschenden Tod des Eigentümers in unruhiges Gewässer geriet, nun aber mit regelmäßig interessantem Programm zurück auf Kurs ist. Immer weitermachen.



Zum Palmsonntag lockte Sonne, eine gute Gelegenheit, noch schnell die Fotoausstellung von Seb Agnew anzuschauen, der mit beachtlichem Aufwand die beiden Etagen der Fabrik der Künste bespielt. In Vitrinen und Winkeln sind einige Requisiten und Kostüme zu sehen, sein Arbeitsplatz wurde dort aufgebaut, an dem das Feilen und Montieren der Set-Modelle mit digitalem Compositing zusammenfällt, und natürlich die großzügig gehängten Fotoserien Grown, Syncope, Epiphany und Cubes.



Agnew ist ein Raumerkunder, der gefundene oder als Modell gebaute Räume mit Ideen vollstopft, Einfälle im Sinne von Invasion, die stutzig macht. Wer lange wartet, sitzt am Esstisch allein, während die Spaghetti wie ein melancholischer Fungus aus dem Kochtopf gewuchert ist und die Küche von Decke bis in die letzten Winkel erobert hat. Vielleicht mein Lieblingsbild (was mich von der Komposition bis hin zur Farbpalette ein wenig an Jeff Walls "Invisible Man" erinnert hat, ein Bild, das mich vor vielen, vielen Jahren fast atemlos machte. Man entdecke die Möglichkeiten!



Niemals klein denken, heißt es zurecht, obwohl Agnew zuletzt mit kleineren Sets experimentiert. Akribisch zusammenbaute Dioramen (die in der Ausstellung zu sehen sind) bieten Modellen und Ideen die virtuelle Bühne für die digitale Nachbearbeitung. Verstörende Orte, Fetzen aus losen Träumen, ein Sessel, der im Kino brennt, wir lagen doch alle mal im Halbschlaf und haben im Augenwinkel einen dunklen Ziegenbock gesehen.



Ein beachtlicher Spaß, diese erfundenen Filmstills und im Moment eingefrorenen unwirklichen Szenen. Vielleicht die interessanteste Ausstellung in Hamburg derzeit, nur leider nur noch bis zum Ostersonntag.

(Seb Agnew, "Dämmerschlaf". Fabrik der Künste, bis 9.4.2023)


 


Mittwoch, 7. Dezember 2022


Don't Wake Daddy XVII


Femke Hiemstra

Ende des Jahres schleichen die Kinder auf Zehenspitzen durch die große Stube, um Daddy nicht zu wecken - dabei sitzt der hellwach in Mitten guter Kunst. Zum 17. Mal lud Feinkunst Krüger, Hamburgs immer noch wichtigste Galerie für vernünftige Kunst, zur famosen Jahresendschau "Don't Wake Daddy". Kuratiert von Heiko Müller, der auch wieder selbst mit einer Reihe Porträts hintergründiger Tiere an Bord ist, sind Werke von 30 Künstler:innen zu sehen, und wer die fantastische Eröffnung am Samstag verpasst hat, hat dazu noch bis zum 23.12. Zeit.


Brad Woodfin


Jason Limon


Chris Leib

Regelmäßige Gäste wie Moki und Femke Hiemstra waren zu sehen, aus Übersee gesellten sich Künstler wie Caitlin McCormack, Jason Limon, Fred Stonehouse, Ryan Heshka, Brad Woodfin und zahlreiche weitere dazu. Einige waren auch anwesend, darunter Allison Summers (die leider auf dem Flyer nicht erwähnt ist, aber ein Bild in der Ausstellung hat).


Heiko Müller


Moki

Umstände und die "allgemeine Situation" hatten mich auch lange in meinem kleinen Polyester-Stadtteil festgehalten, aber hier war nun ein unwiderstehlicher Anlass, mal wieder aufgeschlossen Hallo zu sagen, Lokalgrößen wie Gerd Brunzema in der Menge zu entdecken und im Stillen schnörkellos nachzurechnen, ob man den Galeristen irgendwo einen roten Punkt kleben lassen könnte.


Ryan Heshka


Caitlin McCormack

Wer noch kein Weihnachtsgeschenk hat, sei hier ermuntert: Das ein oder andere Werk ist noch zu haben. Vergesst ETFs und Anteilscheine, investiert in Kunst. Ich bin dadurch auch sehr arm geworden, lebe aber glücklich. Denn Geld ziert keine Wände, Kunst aber wärmt das Herz ganz ohne Heizung.

"Don't Wake Daddy XVII". Bei Feinkunst Krüger, Hamburg. Bis 23.12.22)


 


Sonntag, 24. Juli 2022


Nordart by Nature



Man nennt sie auch die documenta des kleinen Mannes, aber das ist natürlich kein Wettbewerb. Da mich bislang nichts von dem, was ich von der aktuellen documenta gesehen oder gehört habe, irgendwie neugierig gemacht hat, nutzte ich lieber das Neuro-Ticket für einen Ausflug ins nicht allzu weit entfernte Büdelsdorf, gleich bei Rendsburg, auch bekannt als die Stadt am Nord-Ostsee-Kanal.



Bis zum 9.10. gibt es hier die Nordart zu sehen, ein Kunstfestival auf dem Gelände der ehemaligen Eisengießerei Carlhütte, das mittlerweile zum 23. Mal stattfindet. 200 internationale Künstler und Künstlerinne zeigen dort ihre Werke, zu einem großen Teil Skulpturen, die im weitläufigen Park und in der Carlshütte selber verteilt sind. Einer der Schwerpunkte dieses Jahr ist Kunst aus China und der Mongolei, die in der alten Wagenremise gezeigt wird. Ein weiterer Länderfokus liegt auf Polen.



Von Hamburg aus ist man mit dem Regionalzug und einer kurzen Busfahrt in anderthalb Stunden vor Ort, eine beschauliche Fahrt durchs Norddeutsche, hingetupften Einfamilienhaussiedlungen und Felderwirtschaft. Am Ende ist der Nord-Ostsee-Kanal erreicht, die Hochbrücke grüßt, dann auch Industriekultur, Eisen, Rost und aktuelle Kunst. Vieles von dem, was da auf einem weitläufigen Gelände gezeigt wird, hat nicht den Anspruch als "Weltkunst" wie auf der documenta durchzugehen. Und doch gibt es mitunter faszinierende Positionen, gewitzte Einfälle und wuchtige Metalskulpturen in allen Windungen und Deformationen zu bewundern.



Im polnischen Pavillion gibt es ein paar plakative, pop-motivige Sachen, die Sektionen mit chinesischer und mongolischer Kunst spreizen sich auf zwischen Kitsch süß-sauer, starken Farben und erdiger Wucht aus Material. Darunter eine übergroße Venus und schruppige Objekte, die sich mit den schrundigen Wänden und zerrissenen Nischen der alten Werkstätte verbinden. Eine zwischen rostigen Platten, Eisenträgern und alter Maschinerie aufgebaute Bühne gibt es auch. Ich habe jeden Moment die Einstürzenden Neubauten für ein kleines Impromptu-Konzert erwartet.




Die Installation im alten Leitstand hat mich so beeindruckt, dass ich mir völlig versunken den Namen des oder der Künstler:in nicht gemerkt habe. Eine Szenerie wie aus Twin Peaks: The Return oder Fire Walk With Me genommen zeigt die desolate Bude mit wehendem Vorhang und Projektionen in den Fenstern, die hilflose Gestalten zeigen, die offenbar um Hilfe rufen. Ab und zu ist Feuerschein zu sehen, und ich warte eine lange Zeit, ob jemand wie ein rußgeschwärzter Woodsman das Gedicht "This is the water and this is the well" zitiert. Aber so viel Twin Peaks ist dann doch nicht.

(Nachtrag und Hinweis aus den Kommentaren: Die Installation stammt von Pat van Boeckel. Danke!)





Zu Essen gibt es auf dem Gelände auch ein paar Kleinigkeiten, ausreichend Toiletten und vor allem Sitzgelegenheiten sowohl im Park als auch in der Eisengießerei. Einfach, um die Kunst anzuschauen oder um die alten Knochen auszuruhen. Sehr löblich!

>>> Webseite der Nordart
>>> Der Youtube-Kanal der Nordart mit Ausstellungsrundgängen und weiteren Infos


 


Dienstag, 12. Juli 2022


Kleiner Schaugang


(Doom von Merlin Reichart. Hamburgensie, möglicherweise prophetisch.)



(Alien Skin Tolles Fungusprojekt, Name des Künstlers entfallen.)

Die jährliche Diplomausstellung, neuerdings Graduate Show genannt, an der Hamburger Hochschule für bildende Künste (HFBK) ist in Zwischen-Corona-Zeiten wieder etwas barrierefreier zu erreichen, kein Check-in, keine langen Schlangen, zum Glück aber doch viele mit Maske. Vorbildlich. Zu sehen gibt es wie immer etwas aus allen Regalebenen. Manches, wie das pilzige Hautprojekt in der Eingangshalle, schon spektakulär. Angefangen von der amorphen Unterkonstruktion hin zu den ledrigen, außerweltlichen Häuten ein sehr faszinierendes Projekt.


(Changing of the Guard. Der Künstler dreht Teller.)

Oft spielt die Musik aber auch einfach auf den Gängen, wo achtlos vollgekritzelte Kreidetafeln geheime Botschaften offenbaren oder Zusammengefegtes zu skulpturalen Interventionsinstallationen zusammenfindet. Das Haus atmet Kunst, und die bohrt sich wie ein extraterrestrischer funguider Finger durch achtlos Weggeworfenes, lockt und winkt und will nach Hause telefonieren.


(Tafelbild. Sieger im Cy-Twombly-Ähnlichkeitswettbewerb)

Manches steht offenbar im Zeichen der diesjährigen documenta, wo ja Gruppen zusammenfinden und abhängen, reden und abhängen und reden sollen. (Das ist jetzt nur grob wiedergegeben.) Man merkt, wie sich eine Funkstrecke bildet zwischen den einzelnen Kulturinstitutionen, und da gibt es auch gar nichts zu lachen. Freude darf es trotzdem machen.


(Gruß an die documenta. Einfach gesellig abhängen.)


(Gruß an die documenta. Einfach gechillt abhängen.)

In vielen Ateliers finden sich weitere Exponate für mein seit Jahren gepflegtes Projekt Blumen & Waschbecken (streng genommen: Blumen & Flaschen & Waschbecken), weshalb ich gerne am Tag nach den ganzen Feiern und Parties im Gebäude zum Sondieren gehe. Nicht alles habe ich gesehen, nicht alles fand ich überzeugend, aber wie fast immer gab es doch ein paar interessante Positionen (dieses Jahr vor allem Bildhauerei).

Immer weitermachen!


(Blumen & Waschbecken. Mein eigenes wegweisendes Projekt.)