Nachtlärmen




Wer wie ich nicht auf ominöse Anspielungen und rückgratschwache "andere Leute sagen doch auch"-Verbalmarshmallows steht, der gehe zu Lydia Lunch. "Stick the needle in the eye", ruft sie ins Mikro, und schon donnert ihre Band los wie eine Bisonstampede. Schamanistische Ejakulationsmusik, dargeboten von Mama und ihren drei Lustsklaven, mit sprotzenden Gitarren und rollenden Drums herausgeschnitzt aus Lärmgewittern. Der Gitarrist (Weasel Walter von den Flying Luttenbachers) strahlt respektverlangende Gefahr aus, auf so eine gesunde, durchtrainierte Weise, so als wolle er sich nachher noch in einer dunklen Gasse prügeln. Nicht aus Aggression oder niederen Vorbehalten, sondern weil er diese überschüssige Energie loswerden muß. Eine pervers gesunde Kraft, anders als bei Rowland S. Howard früher, bei dem man nicht sicher war, ob nicht irgendwo noch eine Nadel aus dem klapperdürren Gestell seines schmächtigen Klappmesserkörpers herausbaumelte.

Die Lunch derweil hat nach zehn Minuten bereits Tonmischer, ihre Band und das Publikum zusammengeschissen. 100 Jahre schlechte Laune im Gepäck, eine freispielende No-nonsense-Politik, herübergerettet aus verschimmelten New Yorker Clubkellern der 80er-Jahre. "This Gun is Loaded" hieß nicht umsonst eines ihrer Werke, warum auch Drumrumreden und Herumeiern. Der polternde Lärm öffnet bald ein großes schwarzes Loch, in das Lydia ihr Publikum auf einen Ritt durch eine vermüllte Hölle mitnimmt - "Burning Skull", "Slow Burning", "Run Through The Jungle" sind die Stücke aus mehreren Jahrzehnten finsteren No-Wave, die munter dazu angeschlagen werden. Am Schlagzeug sitzt Bob Bert, einst bei Sonic Youth angestellt und nun als lärmgestählter Felsen in die hochprozentige Geräuschbrandung betoniert.



Eigentlicher Höhepunkt des Abends aber war zuvor John Parish, den großen Mann des britischen Musikgewerbes, den Meisten als musikalischer Partner von P. J. Harvey bekannt. Der macht seit Jahren auch Filmmusik, L'Enfant d'en Haut ist darunter vielleicht der bekannteste Streifen, und stellte nun ein Best-of vor. Das großartige Album heißt passenderweise Screenplay und läßt sich hier anhören. Live mit toller Band angenehm differenziert und ohne Mätzchen zu allerlei Projektionen vorgetragen, Gelegenheit für die ein oder andere Entdeckung - mir jedenfalls waren die Filme von Patrice Toye ("Rosie", "Little Black Spiders") bislang unbekannt. Es macht Spaß, solch entspannten, gänzlich unprätentiösen Musikern zuzuhören, fern davon, technische Defizite durch Lautstärke kompensieren zu müssen.

Von der Vorband würde ich das nicht uneingeschränkt behaupten wollen, die nervte mich bereits nach fünf Minuten, gleichwohl ihrem Kopf der Verdienst gebührte, diesen Abend überhaupt veranstaltet zu haben. Mir war es entschieden zu selbstverliebt, zu egozentrisch, zu aufdringlich. Immerhin: Am Schlagzeug, ich sag noch den halben Set hindurch, den kenne ich doch, saß tatsächlich Budgie, dessen Arbeit ich nach dem Ende der Banshees und der Creatures völlig aus den Augen verloren habe. Nie sah ich ihn vor so einem minimalistischen Drumkit, mit dem er dankenswerterweise immer wieder spielfreudig in das ausufernde Ansagegefasel seines Frontmanns hineingrätschte. Schön, daß es ihm offenbar besser geht.

(Der Abend war zudem eine Gelegenheit, die Fuji für die Konzertfotografie zu testen. Mittlerweile ist mir aus verschiedenen Gründen die Nikon zu schwer geworden, und als Reisekamera hat sich die wesentlich leichtere X-Pro sehr bewährt. Bei schwierigen Lichtsituationen in dunklen Konzerthallen allerdings stößt das System, vor allem mit dem 55-200, an (Geschwindigkeits-)Grenzen. Spaß macht sie trotzdem.)

Irgendwann dann durch die Nacht laufen zu irgendeiner Bushaltestelle, nicht irgendwohin, sondern heim. Gesumme im Ohr, alle Nerven durchgespült und neu elektrisiert. Letzte Fotos machen, ein paar Lichter. Run Through The Jungle. Jedermann sein eigenes Rettungsboot.

>>> Lydia Lunch Still Burning (live in Dortmund)

Radau | 01:23h, von kid37 | Kondolieren | Link

 
nnier - Sonntag, 12. Juli 2015, 18:15
Ach, da waren Sie. Klingt interessant, gerade weil es etwas neben meiner Bahn liegt. Aber Drummer, die ins Ansagefaseln hineindreschen, schaue und höre ich schon mal sehr gerne. Ich hab' übrigens nur noch so eine Hosentaschenkamera: Ist so ein Gerät nicht doch recht sperrig beim Konzert?

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kid37 - Sonntag, 12. Juli 2015, 18:52
Die Ergebnisse mit den Telefonkameras sind ja in der Regel ziemlich gut. Für ein Ding, das eh immer dabei ist, allemal. Ich reduziere Gewicht, die X-Pro ist schon deutlich leichter als so eine schwere Spiegelreflex. (Mit dem schweren Tele ist der Vorteil aber schon wieder verloren.) Das alles ist Teil meines Programms für 2015. Schauen, was insgesamt so (körperlich) geht und wozu ich überhaupt noch Lust habe. Der Moshpit ist eh nicht mehr mein Revier ;-)

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gaga - Sonntag, 12. Juli 2015, 21:52
Die beiden Bilder sind doch einwandfrei. Mit weniger Gewicht kann man leichter und beweglicher agieren und hat mehr das Empfinden von einem verlängerten Arm als einer Bohrmaschine in der Hand.

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kid37 - Sonntag, 12. Juli 2015, 22:53
Zusammengerechnet kommen Body und Objektiv immerhin noch auf knapp über 1 Kg. Das geht, zumal man da durch den Sucher fotografiert, die also auch mit dem Kopf abstützt. Am ausgestreckten Arm, um aufs Display zu schauen, möchte ich die einen ganzen Abend nicht mehr halten ;-) Die Nikon ist dafür dann doch schneller, allzu viel Gehampel darf auf der Bühne für die X-Pro nicht sein. (Ist aber auch Übungssache.)

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gaga - Montag, 13. Juli 2015, 00:37
in dem Alter wird ja meistens eh nicht mehr so viel herumgehampelt, außer man heißt Pop oder Jagger.

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kid37 - Montag, 13. Juli 2015, 01:06
Eben. Da kann man nicht mehr "einfach so den Iggy machen wie vor 15 Jahren auf der Carrera-Bahn". (Fehlfarben)

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gaga - Montag, 13. Juli 2015, 01:11
tjaja...
"und hoffst einfach nur, noch ein paar Konzerte zu sehen..."

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frau eff - Montag, 13. Juli 2015, 09:24
Immerhin. Bei uns geht es bei interessanten Konzertankündigungen immer so: Beginn? 21 Uhr. Vorgruppe? Yep. Puh, nee...

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kid37 - Dienstag, 14. Juli 2015, 13:05
Ein Vorteil von Spielstätten, für die strenge Lärmschutzbestimmungen gelten. Pünktlicher Beginn, pünktliches Ende. Für mich als Ein-Mann-Seniorengruppe wunderbar.

Frau Gaga, ich muß Sie wirklich loben. Ich kenne es ja nur so, daß Leute Links auf Lieder, die ich setze, kurz anklicken, den Titel in den falschen Hals kriegen, den Inhalt des Liedes gar nicht weiter zur Kenntnis nehmen und den roten Knopf für die Empör-Eskalation drücken. Großes Geschrei, runter von der Bogroll, Schurkenalarm!
Sie hingegen gehen den Spuren und Fährten unbeirrt und vor allem unvoreingenommen nach und in die Tiefe. Vielen Dank. Mit Ihnen ginge ich auch auf ein paar Konzerte.

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gaga - Dienstag, 14. Juli 2015, 23:20
Ich bin halt ein gründlicher Typ. Für manche etwas anstrengend, wenn die Konzentration mit Beharrungsvermögen in die Tiefe geht, statt in die Breite. (Überlege gerade, wann ich zuletzt auf einem Konzert war. Fällt mir nicht sofort ein.... aber noch ist nicht aller Tage Abend)

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kid37 - Mittwoch, 15. Juli 2015, 00:39
Ich habe letzte Woche Mutter geschwänzt, die nach längerer Zeit (?) mal wieder in Hamburg spielten. Da habe ich geschwächelt. Übernächste Woche wird es einen kleineren Skandal geben (oder einen größeren), wenn ich die Veranstaltung aller jährlichen Veranstaltungen schwänzen werde. Je nun.

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carodame - Mittwoch, 15. Juli 2015, 01:29
'Das sind aber feine Fotos' sagte ich, bevor ich das Kleingedruckte las, was ich meistens nicht mache. Glückwunsch zur Neuen! Ejakulationsmusiker auf dem Höhepunkt abzulichten geht auch mit Ihrer schicken, kleinen Begleiterin. Immer hin zu den extravaganten Muggen... Draufhalten. Berichten. Links.
Ohne diese "Bohrhämmer"(Danke Frau Gaga).

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gaga - Mittwoch, 15. Juli 2015, 02:09
(...) übernächste Woche (...) kleineren Skandal (oder größeren), (...) ich die Veranstaltung aller jährlichen Veranstaltungen schwänzen (...)

Mein Gott man kriegt gar nichts mehr mit, wenn man nicht regelmäßig die Bravo liest. Die Veranstaltung aller Veranstaltungen in Hamburg? Gedenkfeier zum 55. Todestag von Hans Albers?

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lorilo - Freitag, 17. Juli 2015, 11:10
Ich nehme an, es geht um das hier: https://scontent.xx.fbcdn.net/hphotos-xft1/v/t1.0-9/s720x720/11401225_860438283993010_5183769765365846288_n.jpg?oh=762cd4d82110a5ff6146292d08be3d38&oe=560DF2C0

Aber Herr Kid, das ist doch kommod: Gibt eh keine Karten mehr. Obwohl ich vermute, Sie haben sowieso ein Dauerkärtchen.

Obwohl: Das wäre ja nächste Woche. *Naserubbel*.

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kid37 - Freitag, 17. Juli 2015, 12:06
Ja, genau. Der Tag der Tage für Tentakelmenschen wie mich. Stimmt, der ist schon nächste Woche. Aber an dem Tag, den auch Frau Gaga ins Auge faßte. Kein Zufall! Großzügigerweise, ach was: sehr großzügigerweise, hätte ich noch eine Karte bekommen können, nachdem die regulären schon nach zehn Minuten ausverkauft waren. Aber ich bin gerade grundsätzlich etwas entnervt, müde und vor allem müde. Man sieht es ja auch hier im Blog. Dieses Jahr werde ich dann mal nicht den Berserker spielen.

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cut - Freitag, 17. Juli 2015, 12:08
Verflixt
26. Juni in Dortmund. Und mir sagt wieder keiner was.

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lorilo - Freitag, 17. Juli 2015, 13:56
Aber ich bin gerade grundsätzlich etwas entnervt, müde und vor allem müde.

Ich kenn das. Ich sach ja immer, das liegt am Wetter, dann ist das auch gleich durch und man kann es abhaken. Aber ob das Ganze ohne Sie überhaupt funktioniert? Und woher sollen wir dann einen Livebericht, inkl. Schweiß, Lärm und heißen Fotos bekommen? Hm? Ja, da denkt man in seinem entnervten Rumgemümmel auch nicht dran, nicht wahr?

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kid37 - Samstag, 18. Juli 2015, 00:00
Schade, Herr Cut. In Dortmund ist die "Small Beast"-Reihe wohl recht populär gewesen.

Und was R'n'W angeht: Blöde Geschichte. Insgesamt. Aber ich darf nicht klagen, man hat sich quasi an höchster Stelle bemüht, mich in an den Ring zu locken. Ich habe aber keck behauptet, stattdessen endlich den kleinen Film zu schneiden, der vom letzten Jahr noch übrig ist. Herr Baster meinte, solche Sachen würden eh nie fertig - damit hat er mich natürlich angestachelt. Aber voll.

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carodame - Samstag, 18. Juli 2015, 14:12
Das Frühjahr war einfach zu lang, Herr kid. Da sind solche Stachel die beste Arznei. Bestellen Sie eine Sänfte und einen Thron am Ring. Auf geht´s! Hier wird nicht rumgebummelt. Oder so.

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