Streik-Susis



Aufgehetzt durch eine merkwürdig schräglagige Medienlandschaft keift Deutschland sich durch verkehrsstillgelegte Tage. Während die notorischen Kommentarspaltennörgler gerne von "Entschleunigung" reden, war dann gleich soviel davon auch wieder nicht recht. Der Bahnstreik setze nicht etwa ein Zeichen gegen Neoliberalisierung und für Arbeitnehmerrechte, sondern gefährde "meine Fernbeziehung" ist zu lesen oder "die Reisefreiheit am 9. November", denn den Knüppel für eigene billige Anliegen wie "Paaaaaarty in Bääääärlin" kann man ja nicht groß genug wählen.

Was fällt dieser Kleingewerkschaft auch ein? Kann die nicht gefälligst eine e-Petition starten für ihr Anliegen, so wie das normale Menschen heutzutage tun? Vorneweg diejenigen, die sich rühmen, in Jugendjahren jeden Morgen sechs Kilometer zur Schule GELAUFEN zu sein, barfuß, durch den Schnee. Man entsolidarisiert sich weiter, eine ehemalige arbeiternahe Volkspartei will das Streikrecht nun neu gesetzlich regeln. Beifall von denen, die noch Arbeit haben und nicht bis Morgen denken.

Bill Morrisons Film über die britischen Minenarbeiter und ihre Gewerkschaften zeigt ein vergessenes Kapitel Industriegeschichte. Ein nostalgischer, sepiagetränkter Rücklick auf die später von Thatcher zerknüppelte Gewerkschaftsbewegung und die zahlreichen ("Brassed Off!") Blaskapellen im englischen Norden (hier ersetzt durch den wunderbaren Soundtrack von Jóhann Jóhannsson), die Traditionen und das, was wir belustigt Solidarität nennen. Was bitter fehlt, heute, wo wir alle die Helden unserer eigenen Geschichte sind, unsere eigenen Autoren, Vorgesetzten und Selbstversicherer, -optimierer und -manager.

Da ist etwas abhanden gekommen.

("The Miner's Hymns". Regie: Bill Morrison. GB 2010.)

Tentakel | 11:13h, von kid37 | Kondolieren | Link

 
nuss - Freitag, 7. November 2014, 12:40
Ja! Mehr Bildung, dachte ich, Bildung, mit Ausrufezeichen, als die sehr gesprächige Dame neben mir im Zug sich mit dem sehr gesprächigen Herr gegenüber darüber unterhielt, dass sie sich das so nicht vorgestellt hatte, eine Stunde früher heim vom Shopping-Wochenende mit der Tochter in Berlin, wo die Tickets doch so teuer sind und die Zugführer ja wohl mehr als den Mindestlohn verdienen würden, und dann: "Das ist ja richtig Erpressung - das macht einem Angst!" Ich fand das auch beängstigend.

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frau eff - Freitag, 7. November 2014, 12:50
Made my day, comrade. Dass man selbst mal in einer Welt leben würde, die nicht mal eine Vorstellung davon hat, was Gewerksschaftsarbeit bedeutet, also so von der Idee, hätte ich nicht gedacht.
Jóhannsson großartig.

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maphisti - Freitag, 7. November 2014, 15:18
How beautiful, dass man Dokumente be halten hat.

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kelly mg - Freitag, 7. November 2014, 18:09
Gut gebrüllt Löwe. Dem kann ich nur zustimmen (bezüglich des Streiks und des Films).

Als leidgeprüfter Bahnpendler begrüße ich den Streik auch deswegen, weil ich jetzt zumindest im voraus erfahre und überhaupt weiß, warum mein Zug nicht fährt. Das ist sonst nicht so. Seit dem Sommer hat es keine drei Tage am Stück gegeben, an denen meine Bahn keine Verspätung von mehr als zehn Minuten hatte oder nicht ganz ausfiel. Und das hat auch mit dem Streikanlass zu tun: Die Deutsche Bahn hat alle Rerserven bei Menschen und Material abgebaut und beide so erschöpft, dass bereits jede Erkältung und jeder Lokschaden zum Komplettausfall führen. Für mich sind die Bahnbeschäftigten Helden des ÖPNV, sie gehören ordentlich vertreten und bezahlt.

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maphisti - Freitag, 7. November 2014, 19:45
Ich muss das einfach noch einmal be kräftigen und unterstreichen:
Also, auch ICH habe dann damit auch so unendlich und eternal viel verloren?
Wow, das ist ja toll! (Weniger ist ja soo oft mehr - oder doch nicht?! Oder ...)

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schneckinternational - Freitag, 7. November 2014, 20:10
Danke, Herr Kid! Sehr schön und kurz und knapp zur Faust gebracht. Ein perfider Mechanismus, und wie praktisch, wenn sich das Neo-Proletariat including dem Heer der selbstständigen Kleinchefs (wie ich ja auch einer bin...) selbst zerfleischt. Das Prinzip Solidarität sollte Schulfach werden, und zwar schon ab der Grundschule. Ganz besonders pikant in dieser Sache jetzt: Die Bahn als volkseigener Betrieb, war's nicht so?

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maphisti - Samstag, 8. November 2014, 00:06
Das Soli-Prinzip? Total befacht und das gar nich langsam sowie grünldich. Ist aber irgendwo so'n bisschen nichtig angesiedelt wegen Leistungsgesellschaft und Wettbewerb und Hoch- und Tiefverein und so.

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maphisti - Samstag, 8. November 2014, 23:06
Et en passant zum Mitécrire: Je suis un oiseau libre trotz WK et Horoskop! Et c'est très vrais!

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maphisti - Sonntag, 9. November 2014, 22:58
Oh, da gibt es ja noch otherwise Straiksusies zuhauf, notiere ich mal so gogomäßig!

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kid37 - Sonntag, 9. November 2014, 23:37
Frau Maphisti, ich danke Ihnen für Ihre interessanten Beiträge. Aber ich fürchte, Sie sehen uns hier alle verwirrt.

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maphisti - Montag, 10. November 2014, 00:16
Sorry, Herr Kid, wenn mein letzter Ablativ etwas verstört haben sollte.
(Frei nach Reus)
Ich habe doch wohl hoffentlich dabei nicht etwas bei Ihnen zerstört? Sonst können Sie mir das ruhig anvertrauen. Ich bin berühmt wegen meiner Verschwiegenheit und werde im Notfall gern alles bei Ihnen reparieren.

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maphisti - Dienstag, 11. November 2014, 01:15
Magnifique! Der Film!
(Die Mienen berühren mit am meisten, meine ich. Viel Mine gab's und wenig Minne, my God!)

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kid37 - Dienstag, 11. November 2014, 11:36
Frau Maphisti, ich sag's mal diplomatisch: Sie können das gerne als Gelbe Karte verstehen. Ich meine, wie wäre es mit einem eigenen Blog? Da können Sie singen und tanzen die ganze Nacht.Sie müssen das verstehen, die Halle hier ist sehr klein, und hier sind gefährlicheBühnenarbeiten im Gange.

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maphisti - Dienstag, 11. November 2014, 11:47
Condamné soit, qui mal y pense!
Und: Sitzen wir nicht alle in "a yellow submarine"?

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nnier - Dienstag, 11. November 2014, 11:53
Evtl. hilft hier etwas Ma Fisting.

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maphisti - Dienstag, 11. November 2014, 13:07
Glaub' ich nicht. Ich bin eigentlich mehr romantisch veranlagt und äüßerst traditionsgebunden!

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vert - Dienstag, 11. November 2014, 18:46
wie kann einem trotz des ganzen geschwurbels jede soziale intelligenz abgehen? und zwar so, dass es ganze kommentarschaften nervt?
meine bescheidenen beiträge sind vielleicht immer nur sehr begrenzt geistreich (mangels möglichkeit, keine frage) und sicher auch nur mäßig ausreichend witzig, aber ich habe mich oft gefragt, ob kommentare zu weit gehen, ob ich jemandem zu nahe trete, ob ich kommunikativ übergriffig bin. und selbst das ist mir sicher oft genug nicht gelungen, aber vielleicht merkt man wenigstens den guten willen.
es wäre schön, wenn sie es auch mal damit probieren würden.

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mark793 - Dienstag, 11. November 2014, 18:58
While we're talking:
Läuft eigentlich bei Frau Serotonic noch die "Verpiss Dich, Matthias"-Aktion - oder hat es sich dort mit der Umstellung auf disqus erledigt?

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kid37 - Dienstag, 11. November 2014, 19:07
Die Aktion sagt mir nichts. Aber wir müssen das Thema hier jetzt auch nicht weiter, äh, zum Thema machen. Ich lass' mir jetzt vom Roadie eine neue Gitarre geben, und dann geht's mit einem neuen Lied weiter in dieser kleinen Konzertmuschel. Wohlerzogen wie einstudiert.

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modeste - Dienstag, 11. November 2014, 23:41
Beim Bahnstreik meine ich, eine merkwürdige Diskrepanz zwischen veröffentlichter und privater Meinung wahrzunehmen. In meinem - eher grün-liberalen als linken - Umfeld nahm man die Unannehmlichkeiten seufzend zur Kenntnis, versicherte aber tapfer, die Lokomotivführer hätten schließlich alles Recht der Welt, sich gegen ihre bekannt miesen Bedingungen zur Wehr zu setzen. Die öffentliche Meinung dagegen ....

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kid37 - Mittwoch, 12. November 2014, 00:58
Es wird einige geben, die wirklich stark betroffen waren. Ich habe aber den Verdacht, dass viele die eh Auto fahren, die Gelegenheit genutzt haben, sich ordentlich aufzuregen. Auch so ein Hobby. Für andere wird es vielleicht ein "Abenteuer" gewesen sein, mal andere Wege auszuprobieren, Fahrgemeinschaften zu bilden, Lösungen zu finden. Man verläßt halt nicht gern den gewohnten Trott. Und zur Bahn haben die Deutschen ihre Haßliebe. Ich kann mich aber noch an Zeiten erinnern, als die Müllmänner streikten. Das stank nun wirklich zum Himmel. Generell läuft doch aber hierzulande vieles sehr glatt.

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carodame - Donnerstag, 13. November 2014, 16:54
"Shoulder to shoulder".
1984 gab es ein Album mit Test dept.
und dem Chor der streikenden Bergarbeiter aus Südwales.

Danke für den Tritt ans eigene, nicht bahnfahrende Schienbein...
... Entsolidarisierung...
Es ist etwas abhanden gekommen, fürwahr.

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