Too many protest singers, not enough protest songs



Auf den monotonen Kilometern meiner Fahrradausflüge zwischen Deichen und dem großen Nichts stellt sich oft eine gewisse entspannte Rückbesinnung ein. So fiel mir ein, als ich auf einen kleinen versteckten finnischen Club traf, wie ich wie so viele damals meine künstlerische Laufbahn einst in kleinen Etablissements als sogenannter "Liedermacher" und "Prostestsänger" begonnen hatte. Mein Erkennungshit, der die Leute regelmäßig mitriß und auch ein wenig zum Nachdenken brachte, lautete: "Beim Bau der Pyramiden starben Leute/Doch was ist heute?/Doch was ist heute?". Ein anderes ging nach einer beschwingt-fröhlichen Marschmelodie: "Gruppense-hex mit Klaus und Liese/Es geschah auf einer Blumenwi-hiese" (die letzte Strophe hatte eine kleine Pointe, die ich extra eingebaut hatte, damit die Leute gleichzeitig aufgerüttelt, aber auch belustigt werden: "Gruppense-hex mit Klaus und Peter/Ja, das kann doch jeder/Denn die Li-hiese entpuppte sich als Fiese/..." usw. usf. Ihr bekommt einen ungefähren Eindruck.)

Fast wäre ich damit sogar auf das Folkfestival auf Burg Waldeck eingeladen worden. Aber wie so oft im Leben mußte ich mir mal wieder selbst Knüppel zwischen die Karrierebeine werfen. Ich dachte, als Protestsänger die Leute auch mal querdenkerisch provozieren zu müssen und wagte es doch tatsächlich, eine elektrische Gitarre einzustöpseln. Da war aber was los! Es gab Tumulte im Publikum und Pfiffe, einer rief "Judas!", und leider war ich damals nicht cool genug, rotzig "Lügner!" zurückzurufen und den Zuhörern meinen neuen Zound einfach unbeeindruckt mit einer radikalen Version von "Beim Bau der Pyramiden" entgegenzudröhnen.

Selbst noch nicht ganz reif hinter den Ohren, denn das war ja früher, dachte ich, gut, dann eben nicht. Ich weiß ja, was ich sagen will. Ihr müßt dann halt unaufgerüttelt bleiben und dumm sterben. So ging das dann auch los mit der Schlagermusik, zu der ich mich umorientierte, weil ich ja Geld verdienen mußte und mir nichts besseres zur Dumm-sterben-Begleitung einfiel. Aber gut, ich soll nicht immer so viel von mir erzählen. Ihr habt sicher auch was Interessantes erlebt.

Es geht also am Ende darum, sich immer wieder neu zu erfinden, um weitermachen zu können. Dazu sind Erinnerungen gut, denn durch sie kann man die Vergangenheit besser verstehen. Und wenn manche reden, ach, Vergangenheit, das ist so 90er - die muß man reden lassen, die machen es sich bequem. Anders die Künstlerin Gemma Green-Hope, die eine kleine, sehr anrührende Videohommage an ihre Großmutter Elizabeth (genannt "Gan Gan") machte, mühe- und liebevoll animiert aus vielen Fotos und allerlei Alltags- und Erinnerungsstücken.

Ist nämlich - und das betrifft die Zukunft! - bald Muttertag. Damit ihr es nicht vergeßt.

Homestory | 22:37h, von kid37 | Kondolieren | Link

 
gaga - Sonntag, 4. Mai 2014, 04:10
Wie fühlt sich eigentlich so eine alte E-Gitarre, die nie mehr angefasst wird, frage ich mich.

Instrumente wollen gespielt werden, wie Gelenke, die bewegt werden wollen - oder...? Sonst ist doch alles Friedhof. Ich überlege gerade, wo bei mir prämortaler Stillstand eingetreten ist. (Mir fallen da auch ein, zwei Sachen sein.... uh)

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kid37 - Sonntag, 4. Mai 2014, 14:19
Instrumente wollen gespielt, Talente gepflegt werden. Kaffee getrunken, die Liebe geliebt und Lieder gesungen... Moment, mir fallen gerade zwei, drei neue Songs ein.

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kreuzbube - Dienstag, 6. Mai 2014, 12:39
Sich immer neu erfinden, das ist ein passendes Stichwort. Auch ich grüble ja derzeit, was als nächstes kommt. Raubtierbändiger und Rennradrenner habe ich ja nun schon durch.

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kid37 - Dienstag, 6. Mai 2014, 14:08
Ich könnte mir vorstellen, diesen kleinen finnischen Club als "kid73's Bermuda 3-Eck" weiterzuführen. Den ganzen Tag mit einem Kofferradio in so einem vergilbten Monoblockstuhl neben dem Etablissement sitzen, im Gelände daneben ein paar Bienenstöcke, abends obskure Musik oder Geheimauftritte mit John Cale, der sein neues Album testen will.

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kreuzbube - Mittwoch, 7. Mai 2014, 16:33
The late Juniour Kimbrough hatte so ein Häuschen, darin hat er auch musiziert. Sonntags kamen dann die Leute aus der Stadt zu Besuch, die Möbel wurden alle raus geräumt, damit man Platz zum Tanzen hat. Irgendwann wurde ihm das aber zu viel Trubel. Man muss also Obacht geben, dass man keinen anlockt. Obskure Musik könnte gut geeignet sein, aber auch nicht, wenn ganz viele Individualisten auf der Suche nach obskurer Musik sind.

(Gestern Abend hat mir der Drummer von Nick Cave eins getrommelt)

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kid37 - Donnerstag, 8. Mai 2014, 00:07
Daheim in Chulahoma. Ich gebe zu, ich mußte den Mann im Internet nachschlagen. Der hat vieles richtig gemacht. Mir fällt da noch The Big Easy ein. Ich könnte abends Ellen Barkin zu Cajun-Musik und Grillen in mein "Bermuda 3-Eck" einladen.

(Ach. Hat die Scheune gewackelt?)

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