Pinku Eisu



Zum Anfang des eisverschollenen Tages heute morgen konnte ich mein Einstecktuch nicht finden und blieb daher nach reiflicher Überlegung der Arbeit fern, um keinen falschen Eindruck von meiner Person und meinem Erhaltungszustand zu erzeugen. Dahinter steckte aber in Wahrheit kein modeinduzierter besonderer Mut, denn zur Zeit steht sowieso ein Umzug ins Haus. Die letzten Tage folglich umgeben von großen flüssigkeitsdichten Wannen, Rollregalen, Packkartons, versiegelten Stahlcontainern und allerlei Mannsvolk ("Ist Mannsvolk anwesend?") verbracht und erlebt, wie sich die Kollegenansammlung in eine nervengezupfte Dschungelcampbesatzung verwandelte. Es gab eben nur Bohnen.

Winfried, Hausbursche Engelbert und ich verbrachten also den Tag im Wintergarten im Schatten meiner Orchideenzucht und hörten das brandneue, sensationelle Album von Pinkunoizu (was sich anhört, als würden Sonic Youth die frühen Pink Floyd nachspielen). Sehr entspannt; ich dachte mir in meinen verschiedenen Rollen als innerer Winfried oder trunkener Hausbursche oder der andere, der vorgibt, ich zu sein, tiefsinnige Gespräche aus und so kamen wir ganz gut miteinander klar, während anderenorts Rubel, Häuser und Umzugsgut rollten.

Statt wie üblich samstags war ich daher ausnahmsweise schon am Freitag beim HO um die Ecke und traf völlig andere Kundschaft an. So wie den Ghost of my future Self, einen Prinz-Heinrich-bemützten Rentner, der eine Flasche Magenbitter, in Plastik verpacktes, geschnittenes Industriegraubrot und zwei Dosen Sardinen in Öl aufs Laufband packte. Wir tauschten eine launige Bemerkung, denn wir sind von ein und derselben ledrigen Haut.

Letzte Woche indes (!) mit zwei neuen, nicht ausgedachten Ärzten zu tun gehabt, die sich jeweils eine geschlagene Stunde mit mir, der Gesamtsituation und meinen Befunden auseinandersetzten. Dass es so etwas noch gibt! Überhaupt, diese Befunde. Sozusagen mein Lebenswerk, wie ich erkannte, denn obgleich ich keine Romane schreibe, hat mein Körper beschlossen, dies engagiert in mehreren Bänden für mich zu tun. Das Opus magnum, sozusagen a Body of Work, ist mittlerweile angewachsen auf den Umfang von Gustav Freytags Soll und Haben, liest sich aber wie ein Roman von Dickens, grimmig, verwinkelt, voller Nebenfiguren mit sprechenden Namen, unglaublicher Wendungen, erleichterndem Humor, etwas Rührung und vielen mysteriösen Vorausdeutungen. Ob ich der Held meiner eigenen Geschichte bin? Die Ärzte fanden die Frage witzig und verwiesen auf wissenschaftliche Studien, nach denen ein deutlicher Prozentsatz Romane mit offenem Ende, äh, endet. Schließt.

Weitermachen.

>>> Geräusch des Tages: Pinkunoizu, The Great Pacific Garbage Patch

Homestory | 03:37h, von kid37 | Kondolieren | Link

 
cut - Samstag, 1. Februar 2014, 04:47
Immer weiter. Umzüge, Blumen, Bücher, Musik. Immer weiter. Am Abend und am Morgen.

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kid37 - Donnerstag, 6. Februar 2014, 11:56
Und Erwartungen hegen. Und auch pflegen.

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gaga - Samstag, 1. Februar 2014, 11:42
Ja, bitte.
(Mit oder ohne Einstecktuch.)

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stubenhocker - Samstag, 1. Februar 2014, 19:58
Hat man erst mal eine Loop Station vor sich stehen, lässt sich damit vortrefflich Crachuz machen.

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kid37 - Donnerstag, 6. Februar 2014, 11:57
Mein Freund: die Echomaschine als VST-Plugin. Schon bin ich viele. Mit Einstecktuch (wie ein Trompeter).

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ana - Sonntag, 2. Februar 2014, 01:19
"Auf der Suche nach der verlorenen Gesundheit" könnte man das Werk frei nach Proust nennen. Hoffentlich umfasst es am Ende weniger Bände und bekommt einen guten Schluss. Neue Ärzte finden vielleicht auch neue Therapien. Bei mir hat ja ein neues Medikament die Lage sehr entspannt.

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kid37 - Donnerstag, 6. Februar 2014, 11:59
Am Ende kommen die Interpreten mit scharfen Skalpellen und gehen dem Body of Work richtig auf den Grund. Dann kommt die Sekundärliteratur.

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nikalara - Dienstag, 4. Februar 2014, 11:14
Ich möchte Ihnen ein herzliches DANKE zurufen.
Die X-Akten, tote Tiere oder auch dieses spezielle Dschungel-Dingsda gehören eigentlich nicht zu meinen bevorzugten Lektürethemen. Und trotzdem schaffen Sie es, dass ich mich über jeden Ihrer Beiträge freue; ich mag Ihre zauberhafte Wortakrobatik, Ihren Galgenhumor. Und in punkto Caféhaus-Musik gibt es hier bei Ihnen ebenfalls nichts zu meckern. :)
Ihnen alles Gute beim "Weitermachen"!

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kid37 - Donnerstag, 6. Februar 2014, 12:02
Gern. Vielen Dank! (Ein Leben ohne X-Akten und tote Tiere? Macht das Sinn?)

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carodame - Mittwoch, 5. Februar 2014, 18:57
Unbedingt weiter als seufzender Held unglaublicher Wendungen in Wort und Leib und kollektiver Innerlichkeit. Äh, ja.

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maphisti - Donnerstag, 6. Februar 2014, 00:41
Bitte nicht vergessen: Auch Orchideen sind Lebewesen! Ob sie solche Horchideen überstehen würden?

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kid37 - Donnerstag, 6. Februar 2014, 12:06
Die Orchideen wiegen sich sanft im Takt. Als steckten sie im Haar reizender Hawaiianerinnen, die den Pinkunoizu-Stammestanz tanzen. (Für die Touristen, daheim nur finnischer Tango. Wissen aber nur die Wenigsten.)

Frau Carodame: Demnächst dann Bleak House, rußgeschwärzte Tristesse zur Schonung der Nerven.

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nuss - Samstag, 8. Februar 2014, 14:10
Sie sind ja bekanntlich unser aller Held, wegen Sätzen wie diesem: Wir tauschten eine launige Bemerkung, denn wir sind von ein und derselben ledrigen Haut.

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kid37 - Sonntag, 9. Februar 2014, 02:16
Das war ein sehr freundlicher Mann. So wie Sie.

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