Merz/Bow #24


"Ich sehe nur im Moment schlecht aus." H. Hegemann

Immer wenn ich mal wieder eine Ausgabe des ehemaligen Zentralorgans für popkulturelle Fragen ("Musik zur Zeit") in die Hand nehme, weiß ich, warum ich 2000 mein Abo nach 15 Jahren abbestellt habe. In der aktuellen Ausgabe gibt es Interviews zum Thema Theater und Literatur, man hat auf dem Wendecover die Wahl zwischen Schlingensief und dieser Berliner Göre, deren altkluges Gefasel im Heft scheinbar ohne größeren Widerspruch hingenommen wird. Natürlich geht es noch mal um die Diskussion, die sich um ihren sogenannten Roman entfachte, bei dem doch, hier insistiert Helene, das fröhlich Herbeizitierte im Quellenverzeichnis nachzulesen wäre. (Ja, liebe Helene. Aber erst nachdem du beim Klauen erwischt worden bist. Erst da hieß es plötzlich, "ich bin doch bloß postmodern, "regietheatermäßig", und Airen selbst hat sich doch auch "inspirieren" lassen..." Die SPEX, notorisch unterinformiert, nimmt dies ohne nachzuhaken hin. Danke, 5,50 Euro gespart.) Überhaupt mißtraue sie dem tatsächlich Erlebten, diesem "Authentischen", das sei "die größte Lüge überhaupt". Liebe Helene, ein ernsthafter Rat: Verlaß' mal für eine Zeit die vollgepupste Theaterkantine, mach' Reiterferien auf dem Bauernhof, wühl' ein bißchen mit den Jungs und Mädels im Heu und nicht in deinen Haaren, laß überall frische Luft ran. Schwimmen gehen ist auch super. Ausbildung machen ebenfalls eine gute Idee.

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Gleich auf den Seiten nebenan spricht Busenfreund René Pollesch sich etwas selbstgefällig den Kulturkummer von der Seele. Pollesch, dessen hingerotzten Hörspiel-Dreiteiler über prekäre Arbeitsverhältnisse im Netz-Zeitalter "Heidi Hoh" ich einst sehr gut fand, sitzt ja nun schon lange in den wohltemperierten Subventionsstuben der Berliner Theater, aus denen heraus er sich über die "luxuriöse Position" (aus dem Gedächtnis zitiert) der Literaturkritiker mokiert, die den Roman seiner Freundin Helene zerrissen. Höh, höh, was würde Heidi Hoh dazu sagen, das Echo deiner wilden Jugend, René? Polleschs abfällige Aussagen über "30-jährige Blogger" wie Airen, die sich quasi aus dem Berghain herausschwitzen und ihre Erlebnisse anmaßenderweise in literaturähnliche Form pressen, haben ihren Ursprung möglicherweise selbst in gewissen privaten Aversionen (hier darf ich nur ebenso privat spekulieren), man sollte sie also nicht allzu ernst nehmen. Schön immerhin, wenn er und Helene die Wahrheit darüber gefunden haben, was Literatur nun genau ist. Da können die beiden ein Gläschen oder zwei in der Kantine heben, Witzelchen machen und sich ihren Ekel über stümpernde Blogger und wohlsituierte Kritiker (ach, René, wenn das Heidi Hoh hört) gegenseitig auf die Pappteller malen.

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Wenn Geschichte die Geschichte der Sieger ist, ist Literaturgeschichte die Geschichte derer, die als letzte interviewt werden.

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Sind wir doch mal ehrlich!

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Mich erinnert das an die Zeit, als ich Tourgitarrist bei Danzig war, auch so eine unauthentisch verschwitzte Geschichte, wo ich hinter der Bühne die kleinen überschminkten Axolotl-Girls damit unterhielt, mit ein paar zerkauter Drumsticks auf einer Flaschenorgel aus unterschiedlich hoch gefüllten Flaschen Jack Daniels Lieder wie "Muß I denn zum Städtele hinaus" zu klimpern.

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Genug der Betriebsgeräusche, lieber kurz mal Ausstempeln und selbst zum Städtele hinaus: Bevor das mit dem Atmen nicht mehr geht, höre ich auf einen guten Ratschlag, den man mir gab, und gehe eine Weile nach Kansas.

MerzBow | 19:37h, von kid37 | Kondolieren | Link

 
nnier - Sonntag, 29. August 2010, 19:43
Danke für den Bericht. Was sagt denn eigentlich der Diederichsen dazu?

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kid37 - Sonntag, 29. August 2010, 20:02
Ja, was macht der eigentlich. Wenn er sich meldet, hat er hoffentlich Differenzierteres beizutragen. Mich macht diese Kulturbetriebssoße aus der Hauptstadt ein wenig aggre.
(# urlaubsreif, vielleicht zur Entschuldigung)

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vert - Montag, 30. August 2010, 00:09
nix gegen die farmgirls aus kansas
dick tracy ist aber eher ein schlechter ratgeber. zumindest chester gould war doch wohl im herzen eher ein reaktionär.
aber damit ist er in der comiclandschaft nicht alleine - und vor allen dingen können die mädels in kansas nix dafür.

dann mal ab in die hermetische garage zum pferde satteln...

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kid37 - Montag, 30. August 2010, 01:35
Sie wollen doch wohl nicht sagen, diese Comics hätten ein irgendwie konservatives Weltbild?

Das Pferd aber ist toll. Jetzt brauche ich nur noch ein Mädel vom Immenhof aus Kansas, um es zu stehlen.

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lorilo - Montag, 30. August 2010, 13:22
Aber nur die zauberhaften, mit dem rechten Schuhwerk will ich hoffen. Die fallen ab und an ja vom Himmel, auch.
(Insgeheim dachte ich Sie mir schon öfter als eine moderne Tin Man Version, dann passt ja wieder alles so geschmeidig, dass es knirscht.)

Und nicht vergessen auf der Reise: There's no place like home.

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kaltmamsell - Montag, 30. August 2010, 12:19
Wenn Sie so geradeaus lästern, erschrecken Sie mich ganz fürchterlich. Wo Sie doch sonst mein nie erreichbares, überlebensgroßes Vorbild im nonchel..chal..chall... nongschallanten Drüberhinwegsehen sind.

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lorilo - Montag, 30. August 2010, 13:03
In diesem Fall empfand ich gar kein Lästern. (Aber nach meiner unmaßgeblichen Meinung gehörte Frollein H. auch nicht verlästert, sondern tüchtig was hinter die Ohren, auf dass ihr das strunzdumme, dreistfreche Geblubber verginge. Meinethalben auch Therapie, auf dem Land, wenn da noch Aussicht auf Erfolg besteht.)

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burnster - Montag, 30. August 2010, 20:11
frei nach der Kaltmamsell: Wenn Sie so geradeaus lästern, erreichen Sie mich ganz fürchterlich.

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kid37 - Sonntag, 12. September 2010, 23:37
Vielleicht habe ich mich etwas festgebissen, weil der Axolotol auch eines meiner Lieblingstiere ist. Und dann verblüfft mich die Bunkermentalität, die sich da offenbar entwickelt hat. Vielleicht funktioniert ein Betrieb auch genau nur so, ob Literatur, Bloggen, Politik.

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fabe - Montag, 30. August 2010, 14:05
ha! sehr gut danke!

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monolog - Montag, 30. August 2010, 20:19
Fahren Sie nur raus; derweil hab ich Ihnen ein Hinweisschild mitgebracht. Vielleicht machen Sie ja mal eine Norwegenwoche oder sowas :)

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kid37 - Sonntag, 12. September 2010, 23:40
Die tikken ja ganz eigentümlich.

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pappnase - Dienstag, 31. August 2010, 18:54
ot.
schaunse mal hier, hab gleich an sie gedacht...

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kid37 - Sonntag, 12. September 2010, 23:38
Oh. Wie aufmerksam. Vielen Dank.

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thingonaspring - Montag, 6. September 2010, 21:21
Mit Glenn Allen
Hänsalone auf Tour gehen. Das wäre auch so ein Albtraum den ich lieber umschiffen würde. Damals hatten Sie noch richtig Muskeln, stimmt's?

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kid37 - Sonntag, 12. September 2010, 23:38
Und langes Wallehaar!

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charon - Donnerstag, 9. September 2010, 02:50
Einst lauschte ich einem ganz großen, mittlerweile verstorbenen Historiker, dem allerdings an diesem Abend Englisch zu sprechen als Gottesstrafe auferlegt worden war und der die primitivistische Variante des Postmodernismus als eben solche empfunden haben muss. In der Diskussion über Erlebnis, Erfahrung und Authentizität sprach er den großen Satz in kleinem Englisch (mit sehr deutscher Intonation und Wortstellung): "If you get shot in your leg, you will believe me that there is something as a reality." Ich hoffe nicht, dass wir zur Ernüchterung aller mal wieder einer kriegerischen Leibesertüchtigung bedürfen, aber manchmal weiss ich mir keinen anderen Rat.

Kansas City habe ich ebenso als Gottesstrafe empfunden, aber wir haben ja Religionsfreiheit.

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kid37 - Sonntag, 12. September 2010, 23:39
...aber wir haben ja Religionsfreiheit.

Heute haben wir sogar Streetview und klicken einfach schnell weiter.

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tama - Donnerstag, 9. September 2010, 18:56
Das Häuschen ist ja entzückend!
Ansonsten pflichte ich Ihnen bei: Ich kenne zwar Ihre ehemailige Zeitschriftenabos sind, meine kaufe ich mir auch nicht mehr wegen Überseriösität und Bravo-Anwandlungen. Hätte ich so etwas lesen wollen, hätte ich auch Bravo gelesen!

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ulrich s. - Freitag, 10. September 2010, 17:25
Ach je. Herrlicher Text. Unterschreibe jede Zeile! (fast)

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