Eine andere Währung schaffen



Wenn ich im Leben eins begriffen habe, dann, wie alles mit allem zusammenhängt. Während ich also im strömenden Regen zum Lebensmittelmarkt ziehe, begegnet mir einsam am Straßenrand ein totes Kaninchen, das glasigen Auges und nass wie eine Katze bei Hemingway im Grase liegt. Ich werde noch darauf zurückkommen. Abends dann, ich springe jetzt wie ein Hasenartiger über den Assoziationsrasen, zu Schlingensief, ein Benefizabend für sein Afrikaprojekt. Ich bin dem Mann ja auf vielfältige Weise verbunden, was im Detail auszuführen jetzt aber die Dimensionen eines Schlingensiefabends sprengen würde. In gefühlten fünfeinhalb Stunden führte er das Publikum durch einen launigen Abend, eine Kreuzfahrt durch den Kosmos Christoph, und ja, es waren einige ermüdet, genervt, enttäuscht vielleicht, aber die meisten hätten dem charmant-humorvollen Parcoursritt durch Kunst, Leben, Krebs und Zukunft noch bis in das Morgengrauen folgen wollen. In einem endlos mäandernden Bewußtseinsstrom plauderte er über das Woher und Wohin (aus den Flitterwochen, demnächst wieder Röhre, aus Gründen), nahm seine Tablette, redete dabei aber schon weiter über die Zustände in Berlin, den Öko-Familienterror vom Prenzlauer Berg, die "Künstler-" (bitte mit Anführungszeichen) dort und Vernissagenkultur, die Freundinnen, seine heldenhafte Arschlochigkeit, das Versagen, das Scheitern, die schlechten Filme und immer irgendwie halbgeglückten Projekte. Wie er seine Freundin noch auf der Berlinale verließ, weil sie ihn nicht verteidigen mochte (immerhin, sie ist den Kritikern nicht um den Hals gefallen, da hätte es schlimmer kommen können, sag ich mal), die bescheuerte Vorstellung von Loyalität also, wie aber dann Ms Swinton ("klingeling") in sein Leben trat, sie heulend durch Berlin stapften, in die Arme von Udo Kier, "United Trash" (blöderweise der einzige Film von Schlingensief, den ich hier auf Video habe), überhaupt Filmförderung, Doris Heinze (Danke, Christoph!), Grüne, Piratenpartei (Danke, Christoph!) und natürlich "Chance 2000", Wolfgangsee, und immer wieder Wien. Die Container, die "Ausländer raus"-Aktion, Du Künstler!, das Scheitern und dann doch nicht Scheitern, was ich ja überhaupt so großartig an ihm finde: das Machen, das Tun, der intensive Wille, das rastlose Vorwärts, das für buchhalterische Bedenken keinen Raum findet. Er hätte auch Blogger werden können, mit seinen Fragmenten, den Versuchen, den retrospektiven Erkenntnissen, wieviel Mist man links und rechts produziert. Blogger, hätte er nicht das Theater gefunden, die Bühne als Ort vor dem Archiv, als unredigierter Platz vor der Druckreife. Vielleicht sollten Blogger statt der Politik besser die Theater erobern. Schlingensief parodiert Kollegen, Zadek, genial, bekräftigt seine Liebe zu Dieter Roth (Danke, Christoph!), Beuys, überhaupt, die Liebe, und landet endlich in Bayreuth, dem einzigen Kosmos, der möglicherweise noch durchgeknallter ist als die Welt des Chr. Sch. Und um den Kreis zum Anfang zu schließen: Während über ihm auf einer riesigen Leinwand ein Film lief, in dem im Zeitraffer ein toter Hase zur Musik von Parsifal verweste, pumpte, atmete, seine Wunde zeigte (und ich frage mich, wieso ich für meine Lesungen nicht auf diese wunderbare Idee gekommen bin), las er aus den schrägen Briefen der Wagners an ihn, den Regisseur, eingekauft wegen seiner schrägen Ideen, die dann ganz so schräg aber bitte doch nicht sein sollten. Wenn Gudrun schreibt, so die heitere Erkenntnis, bleibt kein Auge trocken. Ich ahne, warum auch ich für meine Freunde oft so anstrengend bin, wenn ich engagiert bin, endlos erzähle, hin- und herspringe, laut werde, energisch, mit den Händen fuchtel, weit nach Mitternacht noch, aber Schlingensief hatte ja noch nicht angefangen mit dem, um das es eigentlich ging: sein Opernprojekt in Afrika. Ich erinnerte mich an ein Uni-Seminar über afrikanische Literatur, wie dort in vielen Kulturen das Konzept vom linearen Erzählen, dem Abhandeln eines Plots weniger bekannt ist als das Kreisen und Winden der oral tradition, weshalb sein geplantes Festspielhaus vielleicht ganz richtig und konsequent in Form einer Spirale, eines Schneckenhauses angelegt ist. Also genau so, wie er selbst erzählt und kreist und kreißt. ("Der kommt nicht zu Potte", murmelte ein entnervter Zuschauer und verließ den Saal; aber genau darum geht es doch, ich meine, hatte er als junger Mensch nicht auch mal einen üblen Darmverschluß?!) Das Wunden zeigen, das Schwach-sein, das Weitermachen ("Krebs, verpiss dich! Ich hab jetzt keine Zeit!"), die Idee weiterspinnen, ein System in Form zu gießen, das anders als viele Entwicklungshilfeprojekte selbst Teil einer sozialen Architektur, eines Austausches ist, in dem Geld vielleicht der Starter ist, am Ende aber das Schaffen einer neuen Währung steht. Der Beitrag, der Kommentar, das Aufgeben und Überantworten, das Archivieren des Unbekannten, Marginalen, die Förderung des Vernikularen, Vorhandenen, die Symbiose statt einer Belehrung. Ich habe das nicht alles bis ins Letzte verstanden. Aber allen Kritikern und Vertretern des "das wird doch nie was" ins Gebetbuch: Ihr seht einen Mann, der etwas tut.

>>> Festspielhaus Afrika
>>> Schlingenblog

darin: Hommage an Jacko

Flanieren | 12:32h, von kid37 | Kondolieren | Link

 
monolog - Montag, 12. Oktober 2009, 14:05
Wer von Schlingensief erwartet, zügig auf den Punkt zu kommen, kennt von ihm aber wirklich gar nichts.

Danke für die überaus lebhafte Beschreibung des Abends. Fast denke ich, ich war dabei.

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kid37 - Montag, 12. Oktober 2009, 14:56
Vielleicht dachten die, er bringt noch mal die Jacko-Nummer. War halt wie ein Abend unter Freunden, man plaudert, man zeigt Fotos und Sachen, man bekam aber auch eine trockene Kehle, vielleicht wurden deshalb einige unruhig.

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sunny5 - Montag, 12. Oktober 2009, 14:07
Dies wird jetzt ein sehr konventioneller Kommentar: Herzlichen Dank, Herr Kid! :) Den Abend in Berlin habe ich nämlich verpasst. Leider.

Nachtrag: Genau, Blogger ab ins Theater! Sehr gute Idee!!!

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kid37 - Montag, 12. Oktober 2009, 14:55
Eben, Schorsch Kamerun und Co. können das schließlich auch.

So weit ich es sehe, war er mit dem Benefizabend noch nicht in Berlin, nächste Termine sind Freiburg, München, Dresden. Der kommt bestimmt noch.

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sunny5 - Montag, 12. Oktober 2009, 15:09
Ah, dann habe ich da was falsch verstanden, auf dem Afrikablog. Ich werde die Ohren und Augen offen halten.

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jean stubenzweig - Montag, 12. Oktober 2009, 15:32
Angetan bin ich. Sie haben mich berührt. Ach was, das tun Sie immer. Aber hier haben Sie eine besondere Stelle angerührt. Ich danke Ihnen.

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kid37 - Dienstag, 13. Oktober 2009, 00:41
Gern.

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gaga - Montag, 12. Oktober 2009, 22:12
merci
hey! Ein Schlingenblog. Das kannte ich noch nicht!

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kid37 - Dienstag, 13. Oktober 2009, 00:42
Wäre er so jung wie ich, er würde dem Internet den Kopf verdrehen!

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gaga - Dienstag, 13. Oktober 2009, 01:04
Der Schlingel!

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wasweissich - Dienstag, 13. Oktober 2009, 10:35
Ah, super Beschreibung - danke. Sein Buch hat mich sehr vereinnahmt, auch wenn ich es stellenweise gar nicht so gut fand, aber da ist immer etwas, das einen tiefer anspricht. Schlingensief ist klasse, warum auch immer, das muss man gar nicht verstehen.

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Lu - Dienstag, 13. Oktober 2009, 11:27
er macht alles so gut.

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lilli marlen - Dienstag, 13. Oktober 2009, 11:46
Den "Schlingenblog" verfolge ich schon länger, und seltsamerweise hat meine Bewunderung für dieses verrückte Genie dadurch ein wenig gelitten. Der Mann erscheint sehr viel narzistischer und weniger autonom, als ich erwartet hatte. Trotzdem - er ist einer von den Guten!

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kid37 - Dienstag, 13. Oktober 2009, 12:43
Auch er will Liebe. Zum Glück aber gibt es so viel davon! In einer ganz eigenen Währung.

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lilli marlen - Dienstag, 13. Oktober 2009, 13:19
Schön gesagt, Herr Kid...

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casino - Dienstag, 13. Oktober 2009, 20:39
wow, was für ein fest, herr kid. nach lektüre finde ich den schlingensief noch toller und wichtiger als sowieso schon (man wird selber ganz empört über den krebs). merci dafür!

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kid37 - Mittwoch, 14. Oktober 2009, 00:21
Rührend auch, wie er erzählte, wie er seine Freundin wegekeln wollte, weil er meinte, Held genug zu sein für all den Scheiß. Und wie er bei aller Entblößung stets charmant und selbstironisch und unterhaltsam bleibt, daß man die Umstände ziemlich schnell vergißt. Ein Abend ohne Angst.

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