Montag, 6. November 2023


Gruselfamilienaufstellung



Derzeit spielen ja viele mit KI herum, bringen diesem Statistik-plapperndem Papageien also bei, wie man Texte schreibt oder Bilder malt. Ich habe mich damit ja auch eine Zeit lang intensiv beschäftigt und einen gewissen Spaß daraus gezogen, aber dann trat eine gesättigte Langeweile ein. Manche Formate, den pseudo-analogen Schmelz von Midjourney etwa, kann ich schlicht nicht mehr sehen. Der wohlige Schauder der ersten Nacht Ergebnisse, als ich dachte, Midjourney sitze in meinem Kopf und bringe meine Träume zu Papier, hat sich ebenfalls gelegt.

Gut hingegen, dass ich so viele Bilder aus dem 19. Jahrhundert von Flohmärkten und Dachklammern gesammelt habe und darüber erzählen kann. Wie dieses Familienbild einer Halloween-Nacht von 1871. Längst nicht so überdekoriert wie heutzutage präsentiert sich die viktorianische Musterfamilie (1 durch seinen Schnurrbart definierter Ehemann, seine ihm liebevoll angetraute Frau, 1 Sohn, 1 Tochter) bereit fürs Samhain oder wie auch immer man diese Spökerei um Allerheiligen bezeichnet. Ein dezenter (dafür wohl echter) Totenschädel (vom Erbonkel erhalten oder durch die damals verbreitete Grabräuberei günstig erstanden) auf dem Nachttisch, ein bisschen Schminke und Schrecken im Gesicht war zu diesen lampenölig beschimmerten Zeiten freudige Ausstattung genug, um kleinen Tricksern und Trötern, die abends zur Haustür schlichen, Schrecken einzujagen. Die Bediensteten verteilten selbstgebackene Kekse, die Familie schaute vom Herrenzimmer aus zu, bedacht, nicht mit dem niederen Gruselmob in Kontakt zu treten.

Obschon ich an Halloween ähnlich andeutungsweise verkleidet und mit der mir eingeschriebenen gewissen Gravitas auf einem Stuhl bei der Eingangstüre warte, das Glas mit meinen Emotional Support Leeches neben mir auf dem Boden, klingeln die kleinen Lauser seit Jahren nicht mehr bei mir. Gut, vierter Stock, das macht man mit dünnen Gespensterbeinen nur einmal. Zumal, wenn man dabei noch abgefragt wird über Sinn und Hintergrund des Festes, der sozial verbindenden Natur von Gebräuchen und Ritualen, den Unterschieden im Grad der Fröhlichkeit zum mexikanischen Totenfest, dem Aufzählen von wenigstens sieben Heiligen oder wahlweise irischen Städten oder europäischen Fledermausarten.

Wie heißt es? Es braucht ein ganzes Dorf von toten Geistern, um junge klappernde Gespenster zu erziehen.


 


Montag, 7. August 2023


Swim, swam, swum



Ich bin ja nur 5 Millimeter davon weg, die Idee, jetzt noch kürzestfristig für einen Urlaub irgendwohin zu fahren, noch kürzerfristig zu verwerfen. Man kann ja stattdessen auch einfach durchdrehen, die eingebrannte Reiseunfähigkeit eingestehen und schlicht abwarten, bis auch dieser soziale Druck, im Sommer UNBEDINGT ETWAS MACHEN SEHEN UND DOKUMENTIEREN zu müssen, vorübergeht. Einerseits.

Andererseits sehe ich gerade dieses entzückende, offenbar von einem US-amerikanischen Filmregisseur, auf dessen Namen ich gerade nicht komme, beeinflusste Video der Londonerin Matilda Mann, die eine dieser zahlreichen jungen Gitarrenklimperinnen mit smarten Texten ist, die es jedes Jahr zu entdecken gibt. Sehr charmant auf jeden Fall und auf den Punkt. Ihr Video basiert auf der Behauptung, auch sie könne etwas nicht und werde von ihrem Umfeld ermuntert, es einfach "day by day" zu versuchen und zu trainieren. Sie ist mehr so Typ "na ja", aber am Ende, natürlich, natürlich, ich verrate jetzt mal das Ende, geht es schon, nun ja, versöhnlich aus.



Ich will mich eigentlich mit dem Sommer überhaupt nicht versöhnen, auch wenn es dieses Jahr zahlreiche kühle Regengebiete gibt, die ein menschenwürdiges Auftreten in sogenannten Urlaubsgebieten versprechen. Wenn man denn erstmal dort ist. Dann aber: Jacke tragen, und sei es nur eine leichte, Haltung bewahren und nicht herumlaufen wie ein verschwitzter Lump. Nun ist mir das aber alles zu weit, zu kompliziert, zu teuer auch. Eine gewisse Unwirschigkeit legt sich bei diesem Thema wie eine weitere dunkle Wolke über mich. Wir stellen fest: Unter der weitgestreuten Talentlosigkeit in meinem Leben nimmt die Urlaubsplanlosigkeit einen vorderen Rang ein. Dieses Syndrom ist selten, es hat noch nicht einmal einen fancy lateinischen Namen. Aber auch das gibt es.

Und jetzt hat unweit meines Leuchtturms auch noch ein Strand eröffnet. Mit Kanuverleih. Man darf dort zwar nicht schwimmen (offiziell), aber immerhin abhängen und vielleicht einen sunny Beachball aufblasen. Wozu also, soll man noch weg, frage ich. Ich kann zu Fuß dorthin. In zehn Minuten bin ich da und muss noch nicht einmal über den Hauptbahnhof.

>>> Geräusch des Tages: Matilda Mann, You Look Like You Can't Swim


 


Dienstag, 20. Juni 2023


Vacances



Drinnen wie draußen ist es bereits wieder ungemütlich warm, die Stadt ein feindlicher Ort, man möchte woanders sitzen, gut durchlüftet und einen Kaffee vor sich. Das letzte Mal, dass ich in einer fremden Stadt im Urlaub gemütlich irgendwo auf einem Balkon saß und einen Kaffee trank ist schon Jahre her, ich weiß gar nicht mehr genau wo das war, auf der Rückseite vom Foto steht nichts.

Im Jahr darauf sollte ich im Juni, also Mitten im Sommer, eine neue Stelle antreten, dann aber hörte ich nie wieder etwas von denen, ich denke mal, das hat sich erledigt, das war 2020. Dann war auch schon Corona und Lockdown und Reisebeschränkungen, und dann war Krieg. Ich wurde darüber ein wenig müde, zunächst im Kopf, jetzt schon im Fußbereich und schon kann man sich kaum daran erinnern, was dieses Konzept "Urlaub" eigentlich ist.



Einmal war ich Schlösser besichtigen. Drinnen war es kühl, das war angenehm, und zugleich war draußen nicht viel los. Man wandert dann so rum über knarrende Parkettböden, nickt mit dem Kopf, sagt "Hm hm", stellt sich Fragen (innerlich) wie "Wo hatten die wohl früher ihren Fernseher stehen?" und tritt mit einem guten Gefühl (innerlich) zurück in die gleißende Sonne (äußerlich), weil man etwas gelernt hat. An der Loire (das ist französische Mosel) kann man mit dem Rad am Flußfernradwanderweg entlangfahren und alle 30 bis 40 Kilometer ein Schloss besichtigen, denn Frankreich hat ganz viele. Das fände ich gut, zum Abkühlen in ein Schlossgewölbe, dabei etwas lernen (welcher Ludwig hier wann "schmachten" musste etwa) und abends Erbsen mit Pürree (in Frankreich sicher mit ganz vielen komplizierten Akzentzeichen auf den "e"s) oder was man da halt so isst. Und am nächsten Tag weitere launige 30 bis Kilometer am Fluss entlang. Das klingt doch wunderbar und gut durchlüftend.

Aber dann muss man da ja erst einmal hin! Wenn man auf der Landkarte schaut, führt der Weg nach links unten erst einmal durch Problematika, einer kleinen Provinz am Rande von Dabrauchtmanbestimmteinautofür und gleich neben Wennduhierdenzugverpasst. Dann muss ja noch meine Staffelei und das Stativ für die Großbildkamera aufs Rad, dazu das Spulentonband für das Field Recording und was man halt so braucht zur Dokumentation der Reise. Bestimmungsbücher! Ganz viele Bestimmungsbücher. Was fliegt denn da? und Was blüht denn da? und Welche Blase ist das hier am Fuß? und dann das alles auf Französisch, weil das spricht man dann da (Wörterbuch nicht vergessen!). Das ist, einmal zusammengerechnet, ganz schön viel.

Früher als junger Mensch war das einfach: Wechselunterwäsche, ein zweites T-Shirt, ein sauberes Taschentuch, Brustbeutel, Interrail-Pass und ab... Unterwegs was geliehen, was Altes und was Blaues, dem Salzgeruch in der Nase nach bis zum Strand, und so war es, und es war gut. Im Alter macht man komplizierte Explosionszeichungen, wo alle Zahnräder exakt ineinandergreifen müssen, denn sonst drohen Tod, Demütigung oder nicht reservierte Essenszeiten. Ein Drama auf kleinsten Bühnen!


 


Donnerstag, 15. Juni 2023


Gedanken haben mich immer sehr beschäftigt



Neulich, ich kam gerade vom Twerken, musste ich so dieses und jenes im Kopf herumrollen lassen wie eine Eisenkugel (hier ein bedeutsames Video). In jedem Eisen steckt eine Botschaft, so die Botschaft, und die gilt es zu erzählen. Man sieht, im Twin Peaks-Universum bin ich die Log Lady, nur halt ohne Holzscheit.

In meinem nur leicht melancholischem Debütroman Ich zahlte und ging herrschte eine ähnliche Stimmung. Dabei knirschten von Nächten ohne Beißschiene abgemalmte Zähne, waren Nagelhäute aufgerissen und Pläne schlecht durchdacht. So musste ich diese Woche erkennen, dass mein Smartphone, kaum sechs Jahre alt und bis auf den abgewetzten Großbuchstaben des Herstellernamens tiptop, technisch dieses und jenes nicht beherrscht. Für ein Sondenexperiment im Biopharmalabor würde ich aber gerne einen RFID-Chip ansteuern, und daran denkt man ja vorher auch nicht.

Jetzt muss also das gute Stück, kaum ins schulpflichtige Alter gekommen, ausgemustert werden und das hat mit Nachhaltigkeit natürlich gar nichts zu tun. Andererseits sind die Drumherumgewirklösungen auch nicht befriedigend, und dann dachte ich gedanklich, nimm es als Botschaft aus dem Orakel-Tempel "Augen zu und durch" (im Original auf Latein) und geh' den nächsten Schritt! Im Elektronikgroßfachmarkt (Glücksplanet Jupiter leuchtete mir von hinten) dann mit anderen grauhaarigen, kritisch murmelnden Herren Telefone beguckt, kurz überlegt, Himmel oder Hölle?, dann bei der Marke des Vorgängers geblieben und ein Angebot gewählt. Zackzack. Um einen Berater zu erwischen, darf man allerdings nicht höflich sein. Im Gegenteil: Man muss ihn bedrängen, von hinten in den Schwitzkasten nehmen, nicht erst mal seine Arbeit vollenden lassen, selbst, wenn er bis zu den Schultern mit dem Kopf in seinem Containerschrank steckt. So jedenfalls machen das die anderen, bereits gut geübten Kunden, die folglich alle vor mir drankamen, auch wenn sie erst später auf diesem blutig gepflügten Schlachtfeld des Warenkonsums gestrandet waren.

Irgendwann zwinkerten wir uns aber zu, er im zerrissenen blauen Hemd mit heruntergefetzten Ärmeln, ich ein wenig wacklig vom langen Warten aber noch artikuliert und auf dem Punkt ("Haben Sie noch, nehm ich dann, Ladegerät und USB-Kabel brauche ich nicht"). Prahlte noch mit meinem immensem "Kabelbaum" daheim, ahnte aber schon, dass ich so ein modernes Kabel (heißt heute ja nur noch "Ladekabel") dann doch nicht habe, wenn es das vor - sagen wir - 1950 nicht gab.

Solche Gedanken hatte ich, Hege und Pflege, und zu Hause, siehe da, sitzt die Pointe und sagt: "So ein Kabel kennen wir nicht. Das war nie in Paris." Nun war bereits der ganze Kauf und Anschaffungszwang so von Missmut durchtränkt, dass ich eh schon einen Hass pflege auf dieses Gerät, das im versiegelten Karton (vielleicht gebe ich es einfach zurück) gerne bis nächste Woche warten darf, wenn dann nicht nur ich geladen bin, sondern auch der Akku.

So war das, und wenn Die Sterne einst sangen "Von allen Gedanken schätze ich am meisten die interessanten", dann war das jetzt natürlich deutlich unterwältigend, denn ihr Konsumgeübten kauft ja alle drei Monate ein neues Telefon - oder wie Michael Holm einst sang "Cupertino, Cupertino - ich fahre jeden Tag nach Cupertino".


 


Sonntag, 16. April 2023


Aus dem Leuchtturmbüro



Tief eingegraben in Arbeit stecke ich seit einiger Zeit im Heimbüro fest, wälze Tabellen und Messberichte, technische Unterlagen und übe mich in einer Lingo, die nicht ganz die meine ist. Zur Begleitung zwitschern mir Vögel was ins Ohr, manches verlockend, manches auch gar nicht mal so sehr. Immer wieder erwische ich sie dabei, wie sie Lesezeichen, Notizzettel und ganze Seiten aus meinen Manuskripten zupfen, um damit Nester zu bauen. Frühling, diese lästige Jahreszeit zwischen triebhafter Aufgeregtheit und unentschlossenem Wetterverhalten.

Man soll auf Internetversprechen nichts geben, also auf Texttafeln wie "Hier entsteht eine Webpräsenz" oder "Ich blogge bald öfter"; das sind Ankündigungen, denen selten Taten folgen. Das hat man in der Regel rechtzeitig im Leben gelernt, etwa wenn es heißt "Bald gehen wir gemeinsam in den Zoo" oder "Mit dir gehe ich mal tanzen" oder "Laß uns einen Kaffee trinken". Ich werde also einfach heimlich öfter was in das Blog schreiben und am Ende alle überraschen.

Vielleicht eine Geschichte über Erik Sanko, der gemeinsam mit seiner Partnerin in Manhattan lebt. "Imagine the laboratory of a Victorian-age mad genius, and you’d probably come up with something like the Tribeca apartment of impish polymath Erik Sanko. An emporium of wonders, the place is jam-packed with creaky cabinets, bones, skulls, taxidermy (watchful birds, wild pigs, a small kangaroo), anatomical models, and—hanging everywhere from delicate strings—some of the creepiest marionettes you’ll ever encounter", schrieb die Village Voice, wo ich zunächst nicht sicher war, ob sie nicht meine Wohnung hier im Leuchtturm meinten. Bilder gibt es auch hier bei The Selby.

Erik Sanko hat mal ein Lied gemacht mit dem Titel "The Beekeeper's Daughter", ein Begriff, von dem ich sicher war, dass ich ihn selbst mir mal ausgedacht hatte. Aber wie das heutzutage nicht eben selten ist: Man liegt in unruhigem Schlaf in einer 90-Zentimeter-breiten Koje, und durchs Fenster klettern vermummte Gestalten mit merkwürdigen Instrumenten herein, die mit langen, verknöcherten Fingern einem die Ideen mühsam aus dem Kopf herausprokeln, nur um sie auf dem schwarzen Markt zu verhökern.

Aber ich schreibe das alles auf!

>>> Geräusch des Tages: Erik Sanko, The Beekeeper's Daughter


 


Samstag, 24. Dezember 2022


Frohe Weihnachten



19 Jahre Das hermetische Café sind es. Ich erwähne das deshalb, falls jemand plant, für das 20. Jubiläum einen kompliziert choreografierten Pompon-Tanz einzustudieren. Aber kein Druck! Ich bin Minimalist und freue mich auch über stille Bekundungen.

Nach allgemeiner Übereinkunft wird heute aber auch der Geburt einer anderen großen Sache gedacht. Engel singen, Sterne beleuchten eine heruntergekommene Herberge, Schäfer und Tiere kommen zu einer mühevoll choregrafierten Aufführung zusammen. Alles ohne Pompon-Tanz.

Habt eine fröhliche Weihnacht, esst nicht alles auf einmal und vergesst die dicken Socken nicht. Hohoho!


 


Mittwoch, 23. November 2022


Aus dem Familienalbum #5


Luisa-Edeltraut von Brockendorff mit Issus coleoptratus edeltrauta

Da ich bei der KI-Bildmaschine Stable Diffusion noch in den Anfängen, also bei der alten Glasplattenfotografie bin, dachte ich, ich könne da auch gleich noch einmal Seiten aus unserem alten Familienalbum zeigen. Wenige wissen um meine Urgroßtante Luisa-Edeltraut von Brockendorff, die ihr "von" durch eine Heirat mit einem gewissen Hugo von B. erwarb, der aber kurz nach der Hochzeit in einem Krieg blieb, wie es hieß. Als junge Witwe wandte sich Luisa-Edeltraut der Tierkunde zu und erwarb sich durch Eifer und Beharrlichkeit ein beeindruckendes Wissen aus dem Haus der Entomologie. Auch wenn der gut gepflegte Hochmut der akademischen Welt schon damals prägend und behindernd war, insbesondere Frauen oder Unstudierten gegenüber, so wurden im 19. Jahrhundert doch all überall beachtliche Forschungen und Entdeckungen von Amateuren geleistet. Gerade oft belächelte "Volks-Entomologen" mit ihrer eigenen, unbefangen Art der Wissenschaftsbetrachtung, konnten immer wieder beachtliche, wenngleich meist heiß disputierte Erkenntnisse beisteuern.


Luisa-Edeltraut von Brockendorff mit ihrer zahmen Mottus bathynomus giganteus

Luisa-Edeltraut arbeitete im Archiv des naturkundlichen Museums irgendeiner Stadt und wurde in Expertenkreisen bald für ihre ungewöhnlichen Funde von Insekten beachtlicher Größe bekannt. Diese brachte sie von geheimnisvollen Reisen mit, für die ihr eigentlich die Mittel fehlten (Hugo ließ nichts außer seinem Hochzeitsanzug zurück), von denen sie aber mit erstaunlichen Präparaten zurückkehrte, die die ehrenwerte Gesellschaft der Wissenschaft und Künste entzückten. Bald trug sie wohl, wie eine zittrige Bildunterschrift im Fotoalbum verrät, den Beinamen "Insektenfrau". Ein von ihr entdeckter und erstmals beschriebener Riesenkäfer wurde gar nach ihr benannt: Issus coleoptratus edeltrauta.


Luisa-Edeltraut von Brockendorff mit Callitropa mergeoptera (nicht ausgewachsen)

Anerkennung und Nachruhm allerdings blieben ihr versagt. Wie es der akademische Nachwuchs und Mittelbau auch heute noch kennt, wurden zahlreiche ihrer Entdeckungen sog. honorablen Herren zugeschrieben, ihr Beitrag zur zoologischen Wissenschaft durch auf hoher Nase getragenem Pince-nez übersehen. Sie mied wohl die Menschen und suchte die Nähe ihrer taxidermischen Präparate, verzeichnete akribisch Käferflügel und Fliegenbeine in staubigen Verzeichnissen und Journalen und starb am Ende einsam und verbittert. So jedenfalls geht die Saga, denn von einer neuen Liebe steht im Familienalbum nichts.


 


Donnerstag, 10. November 2022


Rock Lobster



Neulich gab es ein bißchen was zu feiern, wenn auch nicht zu wild, man muß sich das heutzutage auch bei milden Temperaturen gut einteilen. Denn nur Tage danach kroch gleich schon wieder nässende Herbstkälte durch die Ritzen, es wird ungemütlich unter den Dächern von Hamburg. Die Blume am Fenster nahm es gleich krumm, machte auf Jahresendzeit und rollte die Blätter ein. Ich selbst holte schweigend für die Abende die Wärmflasche aus ihrem Sommerquartier.



Muß jetzt leider ein Auto kaufen, um statt Wackeldackel meinen brandneuen Wackelhummer auf der Hutablage platzieren zu können. Ein Hummer für den Hummer vielleicht. Gleich fiel mir wieder die herzzerreißende Anekdote ein, wie ich eines Tages nach Hamburg zog mit einer Freundin, die einen riesigen Hummer besaß, der auf der Hutablage ihres nicht so riesigen Autos lag. Das fand ich damals toll - ein Auto mit Hummer, so als wäre es eine fahrende Reuse aus einem Staat in New England.

Als mein zerbeulter Koffer gepackt, der Wintermantel mit dem großen Loch in der linken Tasche bereit war und die Reise in den Norden beginnen sollte, schlug mir ein Geständnis fast den filzigen Hut vom Kopf: Der Hummer sei verschenkt worden, er brauche viel Platz und das Leben beginne nun neu. Ich spare die Geschichte von heimlich vergossenen Tränen und vielen stummen Warum?s und kann nun sagen, Zeiten und Dinge ändern sich. Ich bin nun älter, der Hummer ist kleiner, aber manches kommt eben wieder, Kummer und Hummer schwimmen oben, manche Lücke wird gefüllt und mancher Schmerz gestillt.

Manch Multimilliardär aus dem Silicon Valley hätte es da prinzipiell leichter. Er (oder sie) könnte sich eine Hummerfarm kaufen, durch einen kommunikativen Fehler (so meine Vermutung, die meisten Missverständnisse und auch Blutfehden beginnen so) wurde es jüngst aber für einen dieser Multitechnmogule ein Vogelkäfig, in den für 44 Milliarden US-Dollar ein Waschbecken eingebaut wurde. Auch das hätte ich günstiger gemacht und sicher auch schöner, denn wenn ich eines kann im Leben, dann ist es eine Silikonfuge mit dem Spüli-Finger glatt abzuziehen.

Zur Freude des neuen Besitzers hätte ich noch einen Wackelhummer auf der Mischbatterie platziert. Einen Lobster namens Elon.

>>> Geräusch des Tages: The B-52's, Rock Lobster


 


Montag, 12. September 2022


Dance This Mess Around



In meiner weiteren Nähe steht einer dieser Hochbunker, von denen es in der Stadt so einige gibt und in denen meist Übungsräume für Musiker untergebracht sind. Davor gibt es eine Sitzgelegenheit, und manchmal mache ich dort Pause nach einer kleinen Wanderung oder einfach nur so, um den Verkehr der Ausfallstraße zu beobachten, Temposünder zu notieren und Atmosphäre aufzusaugen. Musik hört man dabei nicht, obwohl mein Rücken an den Bunker gedrückt ist. Aber da sind noch zwei, drei Meter Betonmauer zu den Proberäumen dazwischen. Manchmal kommen junge Leute mit zusammengemümmelten Zigaretten und billigen Gitarrenkoffern vorbeigeschlurft, fragen, ob ich etwa reinwolle, und ich sage, danke, nein, ich warte auf einen Kumpel, der hat den Schlüssel. Was natürlich gelogen ist. Ich will da nur sitzen und Atmo rauchen. Musik, das ist ja schon lange her.

An der Ecke sendet mir eine digitale Werbetafel ein sicher nicht zufälliges Signal. Man soll wieder in eine große Stadt in den USA reisen. Es sei Zeit dafür. Sie mache einen brandneu. Vorausgesetzt, sie schafft einen nicht. Das wird schwer, denn so gut wie zum Beispiel Jimi Hendrix spiele ich ja gar nicht Gitarre. Deshalb sitze ich auch vor den Proberäumen und nicht in einem drin. Jimi Hendrix aber zum Beispiel, so lernte ich in einer kürzlich auf Arte gezeigten Dokumentation, sei abseits der Bühne sehr schüchtern gewesen Das wiederum habe ich mit ihm gemein, das kann ein Anfang sein. Man darf sich schließlich nicht selbst klein machen, dafür sind doch andere da. Ein aufmunternder Lockruf hingegen erreicht mich fast zeitgleich aus Manhattan: "Hamburg is too small for you!" Das mag sein oder auch nicht, aber es ist ein Anstoß, überhaupt mal nachzudenken. Nicht, wo der nächste Hut liegt oder die nächste Heizung vielleicht. Sondern nach 500 Jahren Krisen und Pandemie nicht stillstehen, sitzen oder gar liegen. Sondern mal weitergehen. Immer weitermachen.

>>> Geräusch des Tages: Jay-Z feat. Alicia Keys, Empire State Of Mind


 


Donnerstag, 1. September 2022


Der letzte Tag des Sommers



September. Jetzt kommt die Zeit, wo jeder Tag der letzte Tag des Sommers ist. Zeit, die leichten Herbstuniformen herauszusuchen nach einer Ewigkeit endloser Hitze, stechender Sonne und aller anderen Unannehmlichkeiten, die unsere schlimmste Jahreszeit, der Sommer also, hervor- und mit sich bringt.

Warpaint knicken noch mal die Hüften, drehen die Kontraste raus, gehen ein letztes Mal ins kühlere Wasser, singen Jajaja und Lalala (aber mit spitz gefeilten Nägeln). Bus und Bahn sind nun befreit von schwitzigen Neun-Euro-Horden, die Boote drehen kürzere Runden, Wespen holen aus zur letzten Agonie.

Irgendwo ist Krieg, irgendwo sind leere Regale. Irgendwo erntet man ab, irgendwo hängen schwer die Früchte. Irgendwo baut man schnell ein Haus und wartet lange auf die Dächer.

Auf der Straße auch Ernte. Kleine Funde. Irgendwo wurden Bilderahmen zum Selberpflücken rausgestellt. Mittagspause im Innenhof des kleinen Klinikums. Aus den Türen stürmen Pflegerinnen und auch Pfleger, reißen sich mit einer Hand die Maske ab und zünden mit der anderen eine Zichte. Schnelle Züge in Sonne, Knicken in der Hüfte, bis eine nach der anderen zurück muß auf Station.