Sonntag, 3. Mai 2015


Mairegen



Was waren das Zeiten, als man mit Walpurgis und ihren sechs Schwestern auf dem Blocksberg getanzt hat. Heutzutage, da im ganzen fruchtbaren Elbenland kaum noch Jungfern zu finden sind, bleibt so mancher stolze Maibaum unumwunden, flattern keine Kleidchen und bunte Bänder mehr im milden Wind des Frühjahrs. Zudem komme ich jetzt in das Alter, wo das Schleppen oder Stehlen strammer Maibäume ein wenig anstrengend geworden ist, so von der Kraft her und vom Rücken. Da begnüge ich grau gewordener alter Pan mich doch damit, heimlich durchs Laub zu lüschern und den jungen Hexen bei ihrem frivolen Hexenwerk mit gleichzeitig friedlichem und erinnerungsgetränkten Lächeln zuzuschauen. Rik Garett hat's fotografiert und im Buch Earth Magic für alle Daheimgebliebenen dokumentiert. So war es, und ich schwöre das.

Daheim dann Hausschäden, beim Versuch, alles neu zu machen wie so ein Mai. Emailleplatzer, eine kaputte Werkzeugkiste, verschwundenes Reperaturzubehör für meine Fahrradgriffe, eine der Kameras hat einen leichten Defekt. Kommt eins zum anderen. Bei meinem neuen Indie-Kinohit An Ant Walks Home Alone at Daylight habe ich - wie so'n Anfänger! - vergessen, die Schärfe nachzuziehen. Auslandsoscar ade! Erst das mit der Fußballkarriere, dann kein Rockstar geworden, jetzt die Filmkarriere im Eimer. Na ja, bleiben mir immer noch meine unterirdischen Kockkünste. Da könnte ich endlich Wirt werden und ein Restaurant eröffnen: Zum zähen Schnitzl. Jetzt schon Kult. Abends spiele ich für die Gäste auf dem Akkordeon. Kann ich nämlich auch nicht.


 


Donnerstag, 23. April 2015


Folge leisten



Höflichkeit und Sozialverhalten hätten nachgelassen, lese ich in einer Umfrage, und dem stimmten sogar ein gutes Drittel junger Leute unter 30 zu. Nicht, daß jemand auch nur ansatzweise meint, nur alte Grantler ergingen sich in die ewig wiederkehrende Klage vom Verfall der guten Sitten bei der Jugend. Ich nun wieder, als langjähriger erfolgreicher Leistungsträger im internationalen Sportgranteln (mehrere Abzeichen und Medaillen), beobachte diese Zustände quer durch alle Altersgruppen, klage aber nicht, weil Menschen, die wohl selbst im Sittenbinnenland der Bionadetrinker wohnen, mir bedeuten, so schlimm sei das alles nicht.

Umfragen jedoch können nicht lügen und haben Falschfrisierte, Füßeaufdensitzsteller und Garderobierenanweisungsmißachter präzise entlarvt.

Mit Schuhen, die von mir gestaltet geputzt wurden, wandere ich in fremden Straßen herum, fesch frisiert wie ein Marabu und offen für meinetwegen auch unfrisierte Momente und denke mir dabei die ein oder andere Locke auf dem Kopf. Seit einem unkomplizierten Schadensfall mit meinem alten Fön nämlich besitze ich ein neues Haartrocknungsgerät, das Ionisieren kann. Man merkt das nicht sofort, erst wenn die Haare abstehen wie bei einer Comicfigur. Oder wie bei Bob, allerdings ohne diesen Cabriodach-Effekt. Mal schauen. Da war Zubehör dabei, das mir nichts sagt, und vielleicht auch ganz anders eingesetzt wird. So wie früher diese Massagestäbe im Versandhauskatalog, die gerüchteweise nicht wirklich zum Ionisieren an die Wange gehalten werden wie auf den Fotos, sondern sozusagen zum recht eigentlichen, Achtung schlecht zurechtfrisiertes Wortspiel, Yonisieren. Das aber nur dazu und als Test, ob bis hierhin noch jemand mitgelesen hat.

Nach einer kurzen Werbepause, in der ich mir folgerichtig den Mund mit Seife ausgewaschen habe, zurück zum Text. Ich selbst kreide mir Albrigkeiten jeglicher Art am unnachgiebigsten an, man muß sich das als irrlichternden Erschöpfungszustand vorstellen, bei dem man schlußendlich auf andere Menschen hören und Folge leisten sollte. Ich merke nämlich, daß ich mich fühle wie ein von der Achterbahn geschleuderter Hirnforscher, über den der Hamburger Till Nowak diese wirklich ganz wunderbare und verblüffende Wissenschaftsdoku gedreht hat. Sechseinhalb Minuten, die euch zeigen, daß ihr von Achterbahnen im Leben aber nur wenig wißt.

Ging mir früher auch so, weil alles so unaufgeräumt zentrifugiert war und nicht so hübsch übersichtlich arrangiert wie jetzt.


 


Donnerstag, 16. April 2015


Do not ouch!



Vielleicht hätte ich mir mal ein paar Beiträge auf Vorrat speichern sollen, für zehn Wochen wenigstens. Dann hielte hier mein unauffindbares Selbst nicht so lange Schweigepausen wider die Natur. Denn privat, die zwei Menschen, die mich kennen, werden das leider bestätigen müssen, bin ich ja ein perlender Quell banalster Geschichten. Weshalb ich die besser wieder hier hineinschreibe. Sonst wackelt dann und wann ein grüner Hase mißbilligend mit den Ohren.

Mein Fahrrad bewegt sich auch schon wieder, wenn auch nicht von selbst. Änderungen entlang der Fahrtstrecke sind zu verzeichnen: Baugruben, Verkäufe kleiner Häuser, für die ich mich auch schon mal interessiert hatte, ehe ich mich dauerhaft in meinen wohltemperierten Leuchtturm sperrte. Dort stapeln sich die letzten Neuerwerbungen obskurer Bildbände zuletzt so hoch, daß dann und wann ein grüner Hase mißbilligend mit den Ohren wackelt.

Bei so einem Leben geht man besser nur auf Socken weiter. Die gute Frau Sorge, spricht mir aufs Telefon, Befunde in der Hand, und wackelt gleich mit dem ganzen Kopf. Immerhin nicht mißbilligend. Derweil weitere disseminierende Anwürfe verbockter Menschen aus Lautwerder, die in meinem Leben herumstehen. Keine Zeit für Gerede, zumal dem anderer Leute. Über dich redet man auch, denke ich. Interessiert mich auch nicht. Da wackelt höchstens dann und wann ein grüner Hase mit den Ohren.

Mittags bei den netten Bäckereifachverkäuferinnen derweil ganz andere Ver- und Zerstreuungen. Streuselschnecken, Streuselkuchen, Straußwirtschaft lautet die Steigerungsform pausenbrotlicher Vergnügungen. Ein kleiner Schwatz, der Rest "wie immer", der kleine grüne Hase wartet währenddessen draußen am Kai, ißt eine Banane und läßt dann und wann die Ohren im Wind wackeln.

Man kann aber auch bei bester Vorbereitung nicht jedes Mißgeschick verhindern. Das Leben bleibt ein Niagarafall: In 2003, Kirk Jones, a forty-year-old unemployed man from Michigan, became the first person to survive going over the Falls without any safety device at all, effectively ending the era of barrel riding. [...] Jones steeled himself with two liters of vodka and orange and floated towards the crest of the Falls on his back. He had, according to one witness, a smile on his face, and went over the roaring cascade headfirst. His brother was with him and was supposed to videotape it, but the battery died. [Christopher Turner, "Extraordinary Voyages". In: Cabinet, Nr. 19: Chance. New York, 2005. S. 36.]

Da wackelt so ein grüner Hase dann und wann mißbilligend mit den Ohren.


 


Samstag, 28. März 2015


Gordon July



Das Wochenende ist jetzt erst einmal gerettet. Kaum kommt die verderbliche Sonne mit unverfinstertem Licht heraus, habe ich meinen Bücherstapel mit den ungelesenen Büchern hinter weiteren Bücherstapeln entdeckt. Das Fahrrad wäre auch endlich mal zu bewegen, dreams are ten a penny. Vielleicht steht es überwintert in einem Stapel im Fahrradkeller. Hinter weiteren Rädern.

Miranda Julys The First Bad Man habt ihr sicher alle schon erworben, bei Kim Gordons Biografie Girl in a Band bin ich mir nicht sicher. Ich könnte es wahrscheinlich herausfinden, wenn ich mit der bei mir aktuellen Ausgabe meines Lieblingsmagazins Cabinet durch bin, das eine wunderbar inspirierende Ausgabe über "Forensics" gemacht hat.

Der Zeit und den Umständen angemessen, wie ich finde. Zumal ich meine eingerosteten Werkzeuge als Profiler schärfen muß, wenn es denn bald wieder heißt Fü füfü füfü füüü. Sechs neue Folgen wird es geben. Zeit also auch, die alten Anzüge herauszukramen und schauen, ob alles noch bügelfaltenfein sitzt. Zeit auch hier, meine Erinnerung aufzufrischen, denn ein erster, mir zugespielter Wissenstest brachte noch Lücken und insgesamt noch selbstoptimierbare Ergebnisse zu Tage.

Ich werde also, wenn ich mich demnächst fleißig erneut durch diese Ach-so-90er-Serie ("Eine Regierungsverschwörung gegen die eigene Bevölkerung? Wer denkt sich so was aus?") arbeite, etwas touchy sein, wie wir hier auf dem Heiligen Berg der Eingeschnappten Hypersensiblen sagen.

Warum auch nicht? Sei wie ein Weidenkätzchen, heißt die Devise 2015. Zäh und flexibel, mit schneidigem Pfiff und puschelig zugleich. Kauft euch schöne Kleider.


 


Dienstag, 17. März 2015


Ruchbar

Es ist ja häufig zu großer sozialer Nähe wegen - sonst nicht so mein Problem - oder genauer gesagt, aufgrund von hanseatischen Stunksitzungen zu Stoßzeiten des Berufsverkehrs, daß ich zum morgendlichen Apnoetauchen im öffentlichen Personennahverkehr mich angehalten fühle. Motto: Luft und Klappe halten, durchhalten, bei Sinnen bleiben, an Latschenkiefer oder Seeluft denken. An Blumen.



Treiben trüberer Tassen
Ein kaffeeloser Morgen
Auf dem Weg zum Jungfernstieg.


So schrieb ich über diese Herausforderungsumstände ein Gedicht, mit dem ich 2012 die Hamburger Lyriktage gewann ("...präzise Alltagsbeobachtung mit nur scheinbar trivialer Thematik..."). Rede ich außerhalb des engumgrenzten Wohnzimmers meines Blogs im sogenannten Freundeskreis darüber, maulschellt man mich sogleich unangemessen frisch "Toleranz zu üben", das "Leben zu leben" und ansonsten auch zu lassen (also nicht suizidär, sondern im Sinne von zuzulassen, aber das habt ihr euch gedacht). Dann antworte ich: Ihr Fußgänger! Gewürzviertelbewohner! Duftbaumohrschmuckträger!

Man nerve, heißt es dann wenig tolerant und mahnt zu ebendieser. An manchen Diskussionen sollten eben nur Monatskarteninhaber oder sonstwie zertifiziertes Personal teilnehmen. Dann muß man auch nicht wie mit dem Flammenwerfer den Grind aus S-Bahn-Schonbezügen und Gehirnwindungen abkokeln. Dann kann man dabei ganz schön lustig sein, wie ich es Rachel Kushner unterstelle, die hier aus ihrem aktuellen Roman The Flamethrowers liest. Aber den lest ihr wahrscheinlich schon längst alle in der U-Bahn.


 


Samstag, 14. März 2015


Merz/Bow, #49

Ob das hier noch was wird? Ob ich meine Tastatur wiederfinde, wenn schon nicht die Sprache? Gern würde ich betteln, "Bitte, gib mir etwas Zeit", wie es manche im Leben sprechen, während sie dabei längst die Schuhe schnüren. Aber das erinnert an schlichte Schlagertexte, und meiner Erfahrung nach werden schlichte Schlagertexte gar nicht immer verstanden, so komplex sind die. Da werden Liebeslieder zu Pfeilen umetikettiert, daß man sich noch im Grabe drehen möchte.

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Ich habe wohlwollend gelesen. Rocko Schamonis Fünf Löcher im Himmel. Eine eher melodramatische Geschichte mit überflüssigem Epilog, nein, sogar zwei überflüssigen Epilogen, die das effektvoll stimulierte Ende stilistisch runterziehen. Die Sprache stimmt nicht immer genau. Wenn in Tagebüchern aus den 60ern viel zu modern forumuliert wird. Wenn Nachrichten aus dem Kleinstadtkäseblatt aber so gar nichts von mindestjournalistischer Schreibe haben. Da ist es mir zu ungenau, zu schlampig vielleicht. Die Geschichte hält aber gut bei Laune, und mehr will sie ja nicht.

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Ich habe wohlwollend eine Doku geschaut. Marwencol dreht sich um eine fiktive Stadt im fiktiven Belgien zur Zeit des Zweiten Weltkriegs, die der US-Künstler Mark Hogancamp mit Barbiepuppen bevölkert. Ihre groschenromanhaften Kriegsabenteuer fotografiert er als fortlaufende Geschichten und sieht sich selbst als Teil dieser akribisch und detailreich ausgestatteten Seifenoper. Hogancamp war nach einer üblen Schlägerei ins Koma gefallen und hat Hirnschäden erlitten. Seither lebt er in seinem "Tal der Puppen" und integriert auch die Puppen-Doubles seiner Nachbarn und Freunde in die Fotogeschichten. Ein bißchen unheimlich, auf jeden Fall anrührend und faszinierend.

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Im Grunde eine Art Bloggeruniversum, wenn man den Faden mal weiterspinnt. Avatare in ihrer zurechtstilisierten Welt.

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Ich saß mit einer Bekannten beim Essen im besten Restaurant von Marwencol und ging mit ihr meine Exit-Pläne B bis K durch. Aber egal, worüber ich referierte - Imkerei, Interpret von Kunstliederabenden, Malerfürst -, sie kam immer wieder auf "Rockstar" zurück. Ich sei so in dem Alter. Vielleicht ist da was dran, schließlich leben wir in einer alternden Gesellschaft. Ich würde natürlich, meinte ich, gleich oben einsteigen und ausschließlich Hallenkonzerte geben. Diese Clubtourneen im VW Bulli gehen ja doch ganz schön auf die Pumpe.

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Ich habe aber auch noch geheime Pläne. Und Hirnchirurgie finde ich auch interessant.

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Weil ich hier den Überblick verliere, mußte ich einige Bücher und Klamotten zum Basar bringen. Und noch ein paar mehr Bücher und Klamotten. Raumordnung & Struktur, zwei hilfreiche Krücken, wenn man so durchs Leben humpelt. Als Rockstar bräuchte ich natürlich gleich wieder neue Klamotten, Hingucker vielleicht zwischen Ziggy Stardust und Elton John.

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Das bringt mich auf was. Erinnert ich euch noch an den obskuren Kanal Telemedial? Der Herr ist bemerkenswert neu eingekleidet - irgendwo zwischen Ziggy Stardust und Elton John und erzählt etwas über die besonderen Kräfte und insbesondere die Geduld von Steinen. Und Internetfreunde. Da sagt ihr nichts mehr.

MerzBow | von kid37 um 22:37h | 12 mal Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Samstag, 28. Februar 2015


Hinter dem schwarzen Schleier



Während also im Zimmer das Kilimanjaro Darkjazz Ensemble vor sich hindrohnt, wie honigverklebte Schmetterlinge, die über einen blütenverzierten Teppich kriechen, schlürfe ich verhalten an einer Tasse Ersatzkaffee (das Leben als Ersatzhandlung) und blättere im neuesten Band aus dem Last Gasp-Verlag. Der hätte vor nicht allzulanger Zeit beinahe selbst den letzten Atemzug getan, obwohl er mit seinem Programm zu den zehn besten Verlagen der Welt gehört. So ungerecht geht es zu in dieser Unordnung, in der wir uns alle befinden. Nun läßt sich heute glücklicherweise Geld sammeln für allerlei Projekte, übers Internet, und so kam 2014 Beyond the Dark Veil heraus.



Viktorianische Fotografien aus dem Thanatos Archiv, aus einer Zeit also, die uns mit einem bizarren Toten- und Gedächtniskult erstaunt. Vom Liebsten die Locken, die ersten verlorenen Milchzähne, solcherart Alltagsreliquien bewahren viele auch heute noch auf. Tote werden nur noch selten aufgebahrt (hierzulande sowieso nicht offen) und selten fotografiert. In verschiedene Kapitel aufgeteilt (Totenbett, Kinder und Familie, Verbrechen und Unglücke, Haustiere), reihen sich in Beyond the Dark Veil leere Gesichter oder solche wie schlafend aneinander, ernste Verwandte, erstarrte Mütter mit ihren toten Kindern, ertrunkene Matrosen, verlorene Zwillinge, Abschied um Abschied um Erinnerung. Manche Bilder wie ein Schnappschuß, andere mit einer - durch die langen Belichtungszeiten bedingten - Strenge inszeniert, die an unterkühlte Modestrecken erinnern.

Eine sorgsam aufbereitete Bildergalerie. Mit Goldschnitt und einer nachgeahmten Lederprägung, für Nachmittage, wenn eine schrägstehende Sonne den Staub im Zimmer tanzen läßt.

Beyond the Dark Veil: Post Mortem & Mourning Photography. San Francisco: The Last Gasp, 2014.

>>> Geräusch des Tages: The Kilimanjaro Darkjazz Ensemble, The Kilimanjaro Darkjazz Ensemble