Mittwoch, 5. November 2014


Dias de los Muertos



Ich mußte mal für eine Woche die Füße still- und hochlegen. Ein- und Aussortieren, Zielbestimmungsforschung in den Kellergewölben (Sachen, die ich bewahre, Sachen für Basare, Sachen für den Tauschtisch, Sachen wie "kenn ich nich"), auch den metaphorisch gemeinten. Stapel von links nach rechts schieben und letztlich den Abfluß der Spüle reparieren.

Dann Geburtstag: Zum Frühstück Pakete öffnen, interessante Bücher bekommen, darunter: Rocko Schamoni, Fünf Löcher im Himmel, Marcel Mathiot, Die erotischen Abenteuer des Monsieur Mathiot: Bekenntnisse eines späten Liebenden, Eduard Betz, Philosophie des Fahrrads (urspr. 1900). Außer Konkurrenz zum Nicht-Geburtstag noch zwei Bücher über Wien, nämlich Wittgensteins Wien und Der Tschocherl Report: Die unbekannten Wohnzimmer Wiens, worüber ich mich sehr gefreut habe.



Dann mal das Blog abgeschlossen, mit einer Twitterin in einem eisigen Café gesessen und mich anschließend erkältungsbereit gefühlt. Zum Abschluß des Tages im Dunkel der Wohnung mit dem Kopf vor einen Mikrofonständer geknallt - die Folge war eine zickzackförmige Narbe auf der Stirne wie bei einem verwaisten, englischen Zauberlehrling und ein Dröhnen, das wie ein lästiger Ohrwurm ("Chici Chi - Chici Cha") meinen Kopf nicht mehr verlassen wollte. So lag ich dann im Bett, eine Wärmflasche im Rücken gegen die Cafékälte und einen Eisbeutel auf dem Kopf. Das ging doch früher alles mal anders mit dem Geburtstagsfeiern! Als man von heißen Bräuten (darf man "Bräute" sagen? Was ist denn jetzt politisch korrekt? "Ischen"? "Miezen?" Katzen gehen doch immer oder?) gewärmt und Eisbeutel nur gegen den Kater (Katzen gehen immer, sage ich doch!) auf dem Kopf balanciert wurden.

So war das und nicht anders und dann die weiteren altersgeplagten Tage. Regelrecht ausgeknockt nämlich lag ich da, in regelmäßigen Abständen den Totmannschalter drückend, während sich Kopfschmerzen unter meine Schädeldecke gruben und weitere Entspannungsaktivitäten verhinderten. Wie zerebral überwachte Reparaturen im Haushalt oder das Abdichten der Sturmfenster hier an meiner Geriatriestation meinem Wasserschloß.

Pünktlich zum Tag der Toten war ich wieder auf den Beinen, gibt doch wenig so viel Pep wie ein Zuckertotenschädel. Im Museum für Völkerkunde wird jährlich das mexikanische Totenfest gefeiert, da gibt es was zu Essen, zu Staunen und bunte Reliquien zu erwerben. Wie einen Frida-Kahlo-Schrein beispielsweise oder kleine Skelett-Mariachi-Bands. Kinderschminken nicht vergessen, was mir ermöglichte, das Museum ebenso unerkannt wie angemessen als bleicher Schmerzensschädel zu verlassen.


 


Sonntag, 26. Oktober 2014


Neulich in Billstedt



Dieser kleine, sehr rauhe Dokumentarfilm im Ken-Loach-Stil zeigt das Leben im tristen Hamburger Osten, wie es halt ist. Gleichzeitig ist die zart-melancholische Geschichte inhaltlich dennoch völlig unrealistisch. Als Blogger habe ich das natürlich verifiziert und kann sagen: Gisela Bündchen reagiert nicht auf handgeschriebene Briefe. Und ich habe mit Siebenundreißig-Tage-Bart, im Anzug und gut parfümiert tagelang hinter der bloß angelehnten Türe gewartet. Story of my Life.

Gisela Bündchen aber ging, mein Wollen und Verlangen und Briefeschreiben ignorierend, alleine weiter Surfen auf einem Billstedter Badesee. Sie stieg nicht in die U2 oder benutzte den Schienenersatzverkehr am Wochenende. Man muß dieser Wahrheit ins Gesicht sehen. Es bleibt die ebenfalls gut parfümierte Gewißheit: Es sind die Niederlagen, die einen stärker machen.


 


Freitag, 24. Oktober 2014


Es gibt kein Entkommen



Nicht mit brachialer Wucht jedenfalls, sondern durch feine Schnitte, die Laubsäge näher gehalten als die Axt. Wir sehen humorvoll-melancholische Geschichten, die im Holz seit langer Zeit schon eingeschrieben scheinen und von Passfeld, dem Finder solcher Dinge, nur rausgelöst zu werden brauchen. Filmerzählende Bilder und Assemblagen, Holzobjekte, die in den Raum greifen, sich als Sprache tarnen und wieder zu Bildern werden. Da fuhr gerade eine Frau in einem Sommerkleid auf einem Fahrrad vorbei.

Wer sich beeilt, kann sie noch sehen: Die Finissage ist am Samstag.

(Thorsten Passfeld, "Es gibt kein Entkommen". Feinkunst Krüger. Bis 25.10.2014.)


 


Montag, 13. Oktober 2014


Le vent nous portera



Am Ende dann doch noch im Herbst angekommen. Die Landung mag immer weich sein. Der Rest folgt bekanntlich drei Tage später.

Neulich einen schlimmen Traum gehabt. Angekettet wie ein Galeerensträfling, war ich dazu verdammt, bis in endlose Zeiten auf einem Bier-Bike die Reeperbahn rauf- und runterzufahren, während drei Nornen als Fahrgäste mit an Bord waren, die auf leiernden Harfen mein dunkles Schicksal klagten. Ich sollte meiner Liebe zu Ludivine Sagnier entsagen, fordertern sie, weil diese ohne Zukunft sei. Ein Leben in Untertiteln drohe mir, eine sprachlose Liebe in Fragmenten. Die schwitzigen Laken fanden sich morgens leer neben mir, von einem vollen Mond getränkt.


(Café de Flore. Kan./F. 2012. Regie: Jean-Marc Vallée. Musik: Sophie Hunger, "Le Vent Nous Portera".)


 


Mittwoch, 8. Oktober 2014


Kid Holgerson



Am Sonntag sammelten sich mit viel Gequake die Gänse am Himmel über meinem kleinen Barockschlößchen, es zieht sie wohl in die Ferne, aus der ich gerade kam. Dabei flog ich eigentlich mit einem Kranich, was aber auch nur indirekt richtig ist, denn durchgeführt wurde die Unternehmung von der Austria.



Bei der Austria, die mich, wie man auf dem Globus nachverfolgen kann, bis nach Wien brachte, gibt es, anders als bei der Fluglinie, die ich sonst benutze, tatsächlich die klassische Sicherheitsvorführung. Da ich das sonst wie fast alles im Leben nur aus Erzählungen kenne, beobachtete ich aufmerksam. Und fasziniert fielen mir alltagsmythologische Ähnlichkeiten dieser Pantomime mit gewissen, äh, Vorführungen in dunkelkellerigen Subkulturen auf, wie man sie, genau, aus Erzählungen kennt. Fassen wir das mal sachlich zusammen: Da wird also eine von ihrer gestrengen Chefin auserwählte junge Dame in Uniform (!) dazu bestimmt, sich vor einer größeren Gruppe Menschen zu präsentieren. Lächeln ist ihr verboten, eine nähere Kontaktaufnahme auch. In einem unverhohlenem Akt der Selbstdemütigung muß sie nun zeigen, was sie gelernt hat. Wie sie ihre Arme nach hinten strecken kann, mit den Händen flattern, kreisende Bewungen machen, leicht in die Knie gehen und dabei parallele Linien mit den Armen weisen. Danach muß sie vorführen, wie man sich selber mit einem speziellen Gurt fesselt - und zum Schluß macht sie Dinge mit einer merkwürdig ausschauenden Gummimaske vor ihrem Gesicht. Alles klar, sag ich mal.

Euch als erfahrenen Semiotikern Vielfliegern ist das alles natürlich nicht neu, bei meiner Linie indes werden nur abstrakt gehaltene Sicherheitsvideos gezeigt. Ich fliege jetzt übrigens immer Austria.



Meine Unterkunft lag diesmal im 2. Bezirk, da wohnte ich noch nie. Aber meine Wienreisen führen mich ja getreu dem Motto "Wer zweimal im selben pennt, gehört schon zum Establishment" quer und ringsherum durch die schöne Stadt. So lernt man sich kennen. Und die Stadt. Es gab Schokolade, Tee und Kaffee. Und hausgemachte Speisen. Aber auch Trauben. Und junge Damen im Dirndl, wo ich zuerst dachte, es handele sich um einen feuchtfröhlichen Junggesellinnenabschied* auf der Reeperbahn. Aber es war ein Wies'nfest im Prater. Dann erinnere ich einen herrgottsfrühen Rückflug, den ich irgendwie dämmernd verbrachte, von einem sanften Ruckeln geweckt. Das war dann schon die Landung. Beschwingt eigentlich. Gänsefederweich wie in schönen Nächten in Kopf und Herzen.

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* Fun fact: "Junggesellinnenabschied" ist das einzige Wort in der deutschen Sprache mit Doppel-G, Doppel-N und Doppel-L. Falls das mal bei einem Quiz gefragt wird.


 


Dienstag, 30. September 2014


2014: Das Jahr, in dem ich die 52 wieder schaffte



So. Wir dürfen den alten Schlager der englischen Beatkapelle The Kinks anstimmen. "Victoooria!" nämlich hallte es am Sonntag lange über endlose Radwege im wilden und - wie die Boulevardzeitung dieser Stadt schreibt - "unhippen" Stadtgebiet Hamburgs. Das Wetter war friedlich, so geschah es ungeplant, daß ich plötzlich kein Ende mehr fand und meinen persönlichen Mont Ventoux in Angriff nahm. 2012 legte mir diese Strecke so eine hübsche, kleine Leistungszielmarke vor. Eine Marke, die mir ehrlich gesagt, in den letzten beiden Jahren außer Reichweite gerückt schien. Aber, wie lautet die so charmante wie überhebliche unwiderstehliche Predigt: Wer will, der kann auch. Eben, Arschloch, Schatzis. Genau so.

Vorbei also voll auf Lunge pfeifend (aber allegretto) an tiefenentspannten Ziegen, überholt von ein paar Pedelec-Provokateuren (sozusagen das Photoshop des Radfahrens, ein einziges empörendes Fälschungswesen) bis hin zum bekannten Fährhaus, wo lederbezogene Biker ihre Maschinen wie chromblitzende Dominosteine eng an eng stellen. Raum und Zeit für eine kurze Gedenkvesper am Deich, Flußbeschau und Menschenbetrachtung. Dann zurück in die langsam herabsinkende Sonne, an auf Weiden niedergesunkenen Kuhherden vorbei und durch tiefergelegte Mückenschwärme, die sich unter den Bäumen am Radweg sammeln. Mein Hemd sieht aus bald wie ein Insektenrechen, alles voller Straßenverkehrspunkte. Meine Brille aber auch, den Mund halte ich ausnahmsweise geschlossen. Wie ein Walfisch Plankton schlürfend könnte ich mich nahrungsammelnd durch die milde Herbstluft schieben, nicht ganz so pfeilschnell mehr wie zu Beginn, aber mit munterem Tritt.

52 Km also. Auch wenn ich mehr Zeit dazu brauchte als vor zwei Jahren. (Deshalb ist mir unterwegs auch dieser Bart gewachsen, ich muß mich entschuldigen.) Aber umgerechnet auf ein schwerstählernes Hollandrad mit Gepäck und Fahrer sind das sogar viel mehr als auf einem Ultraleichtgeschoß. Sehr viel mehr. Mit der einfachen Formel Pi * Drehmoment geteilt durch Reifengröße multipliziert mit der Wurzel aus Packgewicht plus Windwiderstand (Punkt vor Strich und Klammer zuerst) kommt man da auf ganz andere Werte. Wenn man es denn erstmal in Ruhe durchgerechnet hat. Ich aber pfoff lieber ein Abendlied (nun aber adagio) und malte mir überbordende neue Ziele aus. Niemals klein denken! Das nächste Mal nehme ich ein fesches Görl auf dem Gepäckträger mit. Einfach so! Läßt sich sicher leicht in die Formel mit einbeziehen.

>>> Geräusch des Tages: The Fall, Victoria


 


Sonntag, 28. September 2014


Glades



Da war ich übrigens auch. Zum Eröffnungswochende am ersten Septemberwochenende nach der Sommerpause war dies natürlich der Höhepunkt. Die erste Einzelausstellung von Lokalmatador Heiko Müller bei Feinkunst Krüger setzte gleich mal ein Ausrufezeichen für die neue Galeriesaison. Nach Beteiligungen an zahlreichen Gruppenausstellungen nun also solo.

Der Mann war fleißig gewesen und zeigte gleich eine ganze Reihe großartiger neuer Sachen: Bilder von aufgeschreckten Tieren, abgekämpften Kämpfern und irritierenden Widersprüchen in scheinbar idyllischer Natur. Eine souveräne Schau ohne übertriebenen Klimbim, sondern Auge in Auge mit sanfter Verstörung und bezaubernden Wandlungen. Auch toll: Mit der neuen Brille konnte ich noch die verstecktesten Geheimnisse und prominentesten Gäste entdecken.

(Heiko Müller: Glades. Feinkunst Krüger. 6.-27.9.2014.)

>>> Bilder der Eröffnung
>>> Bilder zum Nachschauen

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