Sonntag, 1. November 2015


Der Reiseteil



So geht einer meiner Albträume. Ich habe alles so schön vorbereitet. Aber weil ich kein Facebook habe dann kommt keiner. Ich höre also ein bißchen Musik, warte ein wenig mit hochgestelltem Mantelkragen auf den berüchtigten Ostwind und eine hübsche Influenza, die mir wild verliebt um den Hals fällt, schaue wie ein gehetzter Hause mit Zylinder immer wieder auf die Taschenuhr und scharre gedankenverloren in Herbstlaub und Erinnerungen. Die ewigen Baustellen dieser Stadt, wie aufgeplatzte Wunden nähen in den zerborstenen Flächen, wie immerzu Möbel rücken, sinnlos hierhin, dahin und wieder zurück. Nie fertig und oft ohne Bestand.




Ein Paradies wird mir das wohl nicht, denke ich leicht verfroren, mögen noch so viele Engel aus einem Himmel voller Rasierklingen gestürzt auf den Straßen posieren. Vielleicht sage ich nächstes Mal einfach ein paar Gästen Bescheid oder lasse mir von Jonathan Meese ein paar wilde Pappfiguren malen, mit denen ich Gespräche führe und vielleicht auch vertraulich bin.



Zum Warmlaufen und Durch- und Ausschwitzen mache ich ein wenig Rentnerprogramm: Hier wird ein Schloß gebaut, dort liegt was im Bikini herum, schöne Frauen blinzeln mir von Plakaten zu und tun auch sonst sehr freundlich. Als mir beim Kramen im Rückgabeschacht des Fahrkartenautomaten ein Zehn-Cent-Stück auf den Boden rollt, hat sich schnell eine Dame gebückt, klaubt mit vor Kälte klammen Fingern die Münze auf - und ehe ich noch rufen kann: Hamburger! Berliner stehlen euch die Centbeträge!, reicht sie sie mir mit einem Lächeln zurück. Ehe dieser Typ von "Verstehen Sie Spaß" aus dem Versteck springen kann wie ein Springteufel auf Speed, wähne ich aber die Lacher längst auf meiner Seite, als ich vergnügt "Na, dit is Ballin, wa!" brülle und der guten Frau jovial in die Wange kneife. Es kommt aber doch kein TV-Team, da ist es mir ein bißchen peinlich.



Weil ich es vor Jahren schon wollte, aber nie dazu kam, besuche ich wie ein staatlich bestellter Vergänglichkeitsforscher das Medizinhistorische Museum in der Charité. Ein Teil von Virchows Sammlung ist dort in einer überschaubaren Daueraustellung zu sehen (der umfangreiche Rest nur mit Führung), die Entwicklung bestimmter Diagnose- und Therapieformen demonstriert und allerlei chirurgische Instrumente (die sich in den letzten Jahrzehnten kaum verändert haben) ausgestellt. Mich beeindruckt die Eiserne Lunge aus den 50ern. Gleichzeitig im wahrsten Sinne beklemmend, ein Überlebensgefängnis, aber auch beeindruckend als ein edles Stück Industriekultur: Hammerschlaglackierung, chromglänzende Hebel und Schalter, eine organisch abgerundete Form - hier war eine Maschine nicht nur zweckdienlich, sondern wurde sichtbar vernünftig und mit Sinn und ästhetischem Bewußtsein gestaltet. Ähnlich zwiespältig in Auftrag und Wirkung manche der Präparate. Verformungen, Vernarbungen, allerlei Malignes und dann die Fehlbildungen: fahle Sirenen, anmutige Sänger, zerebral geschädigt, aber in ihrer Erscheinung sehr wundersam. Man ahnt, woher sich Mythen und Fabeln eben auch speisen. Ein am abgerundeten Schädeldach zusammengewachsenes Zwillingskelett zeigt, wo H. R. Giger möglicherweise seine Einflüße für die Gestalt des Alien herhatte. Biomorphe Strukturen, die fremdartig wirken, uns zugleich aber befremdlich nahe sind.



Im Weltraum, darin Berlin sehr ähnlich, hört einen keiner schreien, heißt es seither, deshalb stoisch und nur die lustigsten Anekdoten im Halfter weitermarschiert, denn für abends hat Frau Gaga alles so schön vorbereitet. Wir sehen uns zu selten, zu lange mußte ich pausieren, nun aber stehen Getränke bereit (ich nur einen winzigen Schluck, Frau Gaga auch) und eine ganz dufte Stimmung. Als Hamburger kenne ich manchen Schnack von Irrungen und Wirrungen, trübseligen Ebben und finsteren Sturmfluten, so ist der reichgedeckte Tisch im Vorbeiflug geplündert, während wir beschwingte Dönekes tauschen. (Ganzer Bericht hier.)

Aus der Nacht draußen tauchen zwei junge Blondinen auf, die um ein Foto bitten. Nicht von mir, ich bin zunächst geknickt, tue aber, um meine welterfahrene Begleitung zu beeindrucken, schnell so als wüßte ich, wie man mit einem modernen Telefon umgeht und mache ein Straßenlaternen-Shooting, mit dem ich demnächst groß rauskommen werde. Beim nächsten Mal sollte ich die Brille vielleicht besser erst hochschieben.

Dann stehen wir noch ein wenig wie kichernde Teenager vor dem Klingelschild von Jonathan Meese. Ich überlege, wie lustig es wäre, den guten Mann rauszuklingeln und mir zum Geburtstag ein auf die Schnelle selbst gemaltes Bild von ihm signieren zu lassen. Aber wenn man nicht mehr ganz 37 ist, wird man vernünftig. Nachher ist der erzbeliebte Künstler weg und die letzte U-Bahn auch.

Am nächsten Tag sitze ich mit einer jungen Dame im Café, und wir tauschen ganz alte Schule Adressen aus. In, Achtung, Getränke kurz absetzen, unseren Notizbüchern! Mit einem Stift! Vor Rührung über diesen Manufactum-Moment werden meine Züge ganz weich. Abends zeigt mir Frau Casino ein kleines, gut besuchtes italienisches Restaurant, so kuschelig, daß ich gleich die Blondine und deren Mann am Nachbartisch an meiner Begeisterung über die Präparate in der Charité teilhaben lasse. Ich meine, bevor man anfängt, beim Essen über Nichtigkeiten zu reden! Die beiden bleiben aber gefaßt, und Frau Casino erschüttert so schnell sowieso nichts im Leben. Die steuert auch sonst souverän jeden Tag einen Viermaster und kann meine kleinen pathologischen Berichte lässig mit mindestens so beeindruckenden Erlebnissen parieren. Prodesse und delectare wie es zurecht heißt. Ich habe einiges gelernt. Und die Influenza ist ein ganz bezauberndes Mitbringsel. Ganz verschmust.

>>> Geräusch des Tages: Tropic Of Cancer, A Color